Hier finden Sie jeden Monat ein neues Musterkärtchen Eduard Mörikes sowie einen kurzen erläuternden Kommentar.


April 2024

… ein heitres Musterkärtchen

Clara fing eines Abends, da sie mich wieder so unkräftig sah, mit großem Eifer an: Nein! Du mußt eine andre Kost, recht gute fette Kost, Fleischspeisen u. mehr Abwechslung im Essen haben! Und das von Stund an. Säßen wir nur schon an den guten Wirthstafeln unterwegs auf der Reise! Du warst Dein Lebtag nie gesünder als auf Reisen und an fremden Orten. Dann vollends das gemüthliche Leben in Bamberg, die Menge neuer Gegenstände und das mit unserem Schneckenbätzchen Alles! – So ging es fort u. ich gab ihr von Grund des Herzens, besonders bei dem lezten Schlagwort Recht.
Den andern Tag vor 12 Uhr frage ich: was essen wir?
Cl.: »Eine gute Suppe, Rindfleisch u. MeerRettig.« Ich mußte laut u. hertzlich lachen, sie war so etwas heulerig-beschämt und ihres guten Willens wegen u. seiner rührenden Unzulänglichkeit, küßte ich sie u. dachte daß Gretchen hier auch gelacht hätte.
Folgenden Tages nahm sie einen starken Anlauf mit einem Bohnengemüß, das wollte aber schlechterdings nicht weich kochen und so blieb es abermals beim Meerettig.

Der Brief an Margarethe Speeth (später verh. Mörike; 1818-1903), in dem das hier zitierte Musterkärtchen wiedergegeben ist, wurde am 22. und 23. März 1847 in Mergentheim geschrieben. Dort lebte Mörike mit seiner Schwester Klara seit 1845 im ersten Stock des elterlichen Hauses von Margarethe Speeth am Großen Markt (südliche Ecke zur Burgstraße; damals Nr. 426, heute Am Markt 5). M. Speeth war am 8. März – zwei Wochen vor dem Entstehen vorliegender Zeilen – zusammen mit ihrem Onkel Johann Georg Schaupp (1785-1849) nach Bamberg gereist, wo ihre Mutter Josephine Speeth (geb. Schaupp, verw. Gavirati; 1790-1860) schon längere Zeit lebte. Es war vorgesehen, daß auch ihre Tochter auf Dauer zu der Bamberger Verwandtschaft ziehen und das Haus in Mergentheim veräußert werden sollte. – Bamberg, im bayerischen Kreis Oberfranken an der Mündung der Regnitz in den Main gelegen, hatte damals ca. 20.000 Einwohner. – Der Plan einer Reise nach Bamberg zusammen mit ihrem Bruder, den Klara Mörike erwähnt, kam jedoch nicht zustande, da die Umzugspläne der Speeths wieder aufgegeben wurden: M. Speeth kehrte bereits Ende Mai, ihre Mutter Josephine (nachdem der Verkauf des Mergentheimer Hauses scheiterte) dann im Oktober wieder nach Mergentheim zurück. – »Schneckenbätzchen« bzw. »Gretchen« waren die Kosenamen Mörikes und seiner Schwester Klara für Margarethe Speeth.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 139-140.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2024

… Nur ein Musterkärtchen sein …
[…]

Agnes (nach Tisch, der Vikar hat sich eben entfernt): Aber wie’s Clärchen vorhin ein wenig gespaßt und gelacht hat mit mir, hat sie der Herr V. angesehn, wie wenn er sie schießen wollt.

Den Brief, den Mörike am 21. März 1842 in Cleversulzbach an Wilhelm Hartlaub schrieb, beginnt er mit den Versen: »Ist von wichtigen Geschichten / Eben nicht viel zu berichten / Tunkt man doch die Feder ein; / Sollt` es auch von Lust und Scherzen / Unter den zufriednen Herzen / Nur ein Musterkärtchen seyn«. Eines der zahlreichen im Anschluß folgenden Musterkärtchen ist das oben Abgedruckte. Es handelt von einer Äußerung, die Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878) während ihres Aufenthaltes im Cleversulzbacher Pfarrhaus Anfang März 1842 über Friedrich Sattler (1818-1899) gemacht hat. Letzterer war seit dem 6. Juni 1840 in Cleversulzbach als Vikar angestellt und lebte im dortigen Pfarrhaus zusammen mit Mörike und seiner Schwester Klara (1816-1903).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 31.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2024

Musterkärtchen
für meine lieben Wimsheimer Freunde

[…] 2 Febr. kommt RegierungsRath Silcher aus Auftrag des Cultministers, um Näheres über die Fähigkeiten Scherers zu der bewußten Stelle am Polyt. zu hören. (Der Mann unterbrach mich mitten im Rasiren u. ich saß ihm noch mit einem Flarren Seife am Ohr gegenüber). Nach gründlicher Besprechung der gedachten Frage kam die Unterhaltung doch noch auf den verstorbenen Tübinger Silcher, welches der Onkel ist.

Im Brief an Familie Hartlaub, den Mörike zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 in Stuttgart geschrieben hat, schildert er Geschehnisse, die sich seit dem Dezember 1864 zugetragen haben. Mörike lebte damals in der Stuttgarter Kanzleistraße 8. Die hier zitierte Begebenheit notierte er unter dem 2. Februar 1865. – Gustav Silcher (1829-1896), ein Neffe des Komponisten Philipp Friedrich Silcher (1789-1860), war Oberregierungsrat im württembergischen Kultusministerium und Beauftragter des Kultministers Ludwig von Golther (1823-1876; der Jurist war von 1864 bis 1870 Kultminister). Letzterer gab Gustav Silcher den Auftrag, bei Mörike wegen eines Lehrauftrages vorzusprechen: Antrag des Cultminist. durch Regier.Rath Silcher weg. Übernahme einiger Lektionen an d. polytechn. Schule (siehe den Kalendereintrag vom 24. November 1864). Mörike lehnte das Angebot am 28. November 1864 ab: Ablehnendes Schreiben an den CultMinist. (Kalendereintrag unter diesem Datum).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 76.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2024

Musterkärtchen.
[…]

OCTOBER. […] 16. EN FAMILLE nach Degerloch, hauptsächl. der Kinder wegen, um einmal süßen neuen Wein zur Genüge im Ritter zu trinken; er war jedoch schon ziemlich angegangen und sie erholten sich lieber an Kirchweihkuchen, ich aber hatte bald einen heitern Rauschanflug davon und mußte mir Gewalt anthun, um mit Gretchen einen längst beschlossenen Besuch bei unserm Thum zu machen. Wir fanden ein ganz städtisch, elegant eingerichtetes Pfarrhaus. Er selber hat in Sprache u. Manieren, unbeschadet seiner natürlichen Herzlichkeit, etwas Geglättetes, Verbindliches, das auch Du schwerlich bei ihm suchtest. Eine junge freundliche Tochter hält ihm Haus. Sie brachte noch vollkommen süßen rothen Wein, nebst herrlichen Trauben u. wir ließen es uns aufs Neue sehr schmecken.
Auf dem Heimweg war es schon sinkende Nacht; die Kinder freuten sich die Steig hinunter über die vielen Lichter im Thal u. warfen zuweilen besorgliche Blicke rechts in den Wald wegen Räubern.

Der Brief an Familie Hartlaub aus Stuttgart vom 14. Januar 1866 enthält Musterkärtchen, die im Zeitraum zwischen dem 24. September und dem 8. Dezember 1865 entstanden sind. Darunter auch das Vorliegende, das unter dem Datum des 16. Oktober von einem Ausflug nach Degerloch berichtet. In seinem Kalender für 1865 (SNM 2695) hatte Mörike unter diesem Datum eingetragen: EN FAMILLE zu Degerloch im Ritter und bei Pfarr. Thumm. Das Wirtshaus Ritter lag vor dem damaligen Stadtrand Degerlochs (wenn man die Stuttgarter Weinsteige heraufkam; heute Epplestraße 2). – In der Gemeinde Degerloch, südlich von Stuttgart gelegen und später dorthin eingemeindet (mit damals etwa 1500 Einwohnern), war seit 1848 Mörikes Kompromotionale Karl Wilhelm Thumm (1804-1873) Pfarrer. Das Pfarrhaus, 1801-1802 erbaut, liegt im Zentrum des Orts. – Mörike war unterwegs mit seiner Frau Margarethe (»Gretchen«, 1818-1903) sowie seinen beiden Töchtern Fanny (1855-1930) und Marie (1857-1876). Während des Besuchs bei Pfarrer Thumm wurden die Mörikes von dessen Tochter Agnes Pauline (1839-1907) mit Neuem Wein bewirtet. - Mit »die Steig« ist die steile Stuttgarter Alte Weinsteige gemeint, früher die einzige Straße, die nach Degerloch hinaufführte (entlang des Waldes »Am Bopser«).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 122-123.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2023

Musterkartenbrief
für meine lieben Wermbrechtshäuser
[…]

Der Maler Wächter, sagt man mir, hat endlich seinen Hiob verkauft, das große schon in Rom gemalte Bild, das wir auch einmal zusammen bei ihm sahn. Wohin, zu welchem Preis konnte ich nicht erfahren. (Der verstorbene König Friedrich bot ihm vergeblich 7000 F.) Kurz vor der Absendung begegnete ein Streich, den Du in hohem Grad charakteristisch für so einen armen Martyrer der Kunst, besonders für den Wächter finden wirst. Nachdem er nemlich das Bild bereits in dem Verschlag gehabt, empfand er ein Verlangen, es nocheinmal zu sehn; er nimmts heraus und eh ers wieder in den Kasten bringt, fällt ihm der Deckel drauf u. stößt ein respektables Loch in den weißen Mantel der Hauptfigur. Das Schönste aber ist, daß ihm nunmehr der Käufer, obwohl die Malerei von W. selbst vollkommen restaurirt worden sey 300 F. baar in Abzug gebracht habe. Hätte der Kerl nicht eh das Doppelte u. Dreifache drauflegen sollen, dem Zufall diesen herrlichen Zug zu bezahlen, welcher das Stück verewigen würde, auch wenns nicht wäre was es ist?

Der gemeinsam mit seiner Schwester Klara Mörike (1816-1903) an Familie Hartlaub vor dem und am 6. Dezember 1839 in Cleversulzbach geschriebenen Brief enthält neben anderen Musterkärtchen auch das hier Vorliegende. Die hier geschilderte Begebenheit um den Maler Eberhard Wächter (1762-1852) muß Mörike allerdings viele Jahre zuvor erfahren haben, denn dessen Gemälde »Hiob und seine Freunde« (entstanden in den Jahren 1796 bis 1824) wurde bereits im Herbst 1836 von König Wilhelm I. um 256 Louisdor (2048 Gulden [fl]) für die damalige Stuttgarter Kunstschule gekauft (heute in der Württembergischen Staatsgalerie Stuttgart). Wer das Bild zuvor in Besitz hatte, ist nicht bekannt. Auch ist die Beschädigung des Bildes und das Kaufinteresse König Friedrichs (1754-1816) sonst nicht erwähnt. – In Mörikes späteren Jahren hing in seiner Wohnung eine Radierung von K. Rahl nach diesem Gemälde. – Der Besuch Mörikes und Wilhelm Hartlaubs (1804-1885) bei Wächter wird während der Studienjahre 1822-1826 stattgefunden haben. – »Wermbrechtshausen« ist ein alter Name für Wilhelm Hartlaubs Pfarrdorf und Heimatdorf Wermutshausen, mit damals ca 250 Einwohnern im Oberamt Mergentheim gelegen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 75-76.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2023

[ohne Überschrift]

[…] Da kamen lezten Sonntag Abend die alte Königin, die Fanny u. Mathilde; sie traten mit den Worten ein: hier kommen Kirchweihgäste! Ich war nicht beim Empfange, sondern ich fand sie, von einem späten Spaziergange heimkehrend, schon mitten im Gespräch und zwar in der bekannten Krakelerei über unser vielbewundertes Porcellan, welches die eine von den Töchtern noch nicht gesehen hatte. Sie saßen alle wieder, die Hände in dem Schoos, um einen Tisch worauf ein kahler Teppich lag und sahn mir gar nicht aus als wär es ihnen lediglich um die gemalten Schüssel, Platten u. Teller zu thun, und schon war es mit bange, ob Clärchen auch was bringen werde, das jenem ersten Ankündigungsgruß einigermaßen entspräche. (Sie hatten auch die größte Lust geäußert, die Wermbrechtshäuser Kuchen an Ort u. Stelle zu versuchen) Ich sah mich deßhalb einigemal nach Clärchen um, die sich im Nebenzimmer zu thun machte. Allein was wars? Eine porzellanene Kuchen-Platte schleppt sie nachträglich noch herbei, ein Ding vom größten Ammoniten-Format, zu einer Torte für 16 Personen! So stand das Ungeheuer mitten auf dem Tisch und die Gäste mußten ihre Mäuler aufreissen zu hungernder Bewunderung, und sollte dieses große Thier mit seinen Blumen u. goldnen Handhaben also den ganzen Abend angebetet werden! Ich saß wie auf Nadeln und stopfte mir in heller Verlegenheit eine Pfeife, indem ich von der Ludwigsburger Fabrik, wo diese Prachtstücke hervorgegangen und vom dem Herzog Karl selig das Wesentliche beibrachte. Dazwischen drückte es mich auch, daß nur ein einziges trübes Licht auf dem schwarzhölzernen Leuchter brannte. Die durchbohrendsten Augenwinke schienen, obzwar ganz wohl verstanden nichts über Frl. Clara und ihren Vorsatz zu vermögen, bis endlich doch ein wenig Eingemachtes von Johannisträubchen, auf Schnitten schon zurechtgestrichen, und zu theuerst die Glaslampe erschien, die freilich ein ziemlich ungleiches Paar mit dem gedachten Leuchter formirte.

Der vorliegende Text – von Mörike wohl im Sinne eines Musterkärtchen in den Brief von seiner Schwester Klara (1816-1903) an Konstanze Hartlaub (1811-1888) eingefügt – wurde am 20. November 1844 geschrieben. Mörike wohnte mit seiner Schwester damals seit dem 1. November in Mergentheim im Haus von Nikolaus Fuchs am Boxberger Tor (Mühlwehrgasse 28). Die Familie des pensionierten Rentamtmanns Johann König (1790-1866) hatte Mörike schon 1836 kennengelernt; seine Frau Friederike König (1788-1857) war mit zwei ihrer Töchter – Mathilde (1814-1892) und Fanny (1818-1882) – am 17. November, dem Tag der Kirchweihe, zu Besuch gewesen. Die »Kirchweih«, ursprünglich der Tag der Wiederkehr der Einweihung der jeweiligen Ortskirche, war seit 1804 zunächst in großen Teilen Württembergs auf den dritten Sonntag im Oktober festgelegt worden. Dieser Termin wurde erst 1852 für ganz Württemberg verbindlich vorgeschrieben. So feierte man in Mergentheim die Kirchweihe noch bis zu diesem Jahr jeweils Mitte November. – Die Produktion des Ludwigsburger Porzellans wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts großzügig von Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728-1793) unterstützt; sie erreichte zwischen 1760 und 1770 in ihrer Blütezeit die Spitze der europäischen Produktion. Die Fabrikation mußte aber bereits 1824 wegen den ausbleibenden staatlichen Zuschüssen eingestellt werden. – Teppich wurde im Schwäbischen auch in der Bedeutung »Zierdecke für den Tisch«, »Tischdecke« verwandt. – Mit »Wermbrechtshäuser Kuchen« war der Kuchen gemeint, den Mörike und seine Schwester Klara von Hartlaubs aus Wermutshausen erhalten hatten. – Im Schwäbischen wurde »zu theuerst« verwendet für: »zu allem hin noch«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 190-191.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2023

MUSTERKÄRTCHEN

Wir fuhren neulich mit der ganzen Familie samt dem H Fischer, nach der Stadt (Es war ein Elephant im Bischoffshof zu sehn, auf den Alles begierig war nur ich und Clärchen nicht, wir trennten uns von den Andern am Dom, durchstrichen die Stadt, verschiedne wundersame Gäßchen, u. sezten uns zulezt, mit einem THAMMERischen Vesperstück in Claras Korb, auf jene Bank an der (für jetzt geschlossenen) Garküche, unfern der großen Brücke, sahen den Wirbeln der Donau zu, den Schiffern, die ein schwer beladnes Fahrzeug an einem langen Seile stromaufwärts zogen, der Sonne, die mit ihrem rosenrothen Lichte endlich nur noch die Wölbungen der 3, 4 äußersten Brückenpfeiler füllte, auch diese jetzt verließ und gleichzeitig den lezten Glitzerschein in den Scheiben der höchsten Gibeldächer von Stadtam-Hof zurückzog.

Seit dem 6., September 1850 weilte Mörike, seine Schwester Klara (1816-1903) und Margarethe Speeth (1818-1903) zu Besuch in Regensburg an der Donau, der Hauptstadt des damaligen bayerischen Kreises Oberpfalz mit ca 26500 Einwohnern. In dem zwei Kilometer entfernt gelegenen Pürkelgut hatte am 1. Januar 1848 sein Bruder Ludwig (1811-1886) den Dienst als Ökonomieverwalter angetreten. Zum Zeitpunkt des vorliegenden, kurz nach dem 22. Oktober 1850 entstandenen Musterkärtchens war Margarethe Speeth bereits wieder nach Mergentheim zurückgekehrt. Mörike, seine Schwester Klara, sein Bruder Ludwig und dessen Familie – seine Frau Franziska geb. Gräfin von Normann-Ehrenfels gesch. von Bloß (1811-1866) und seine Söhne August (1842-1920), Eduard (1843-1904) und Hermann (1840-1896) – besuchten wenige Tage vor dem Entstehen dieses Schreibens die Stadt. Mit von der Parthie war auch der Hauslehrer Johannes Fischer. – Im Bischofshof am Markt (heute: Krauterermarkt 3), seit 975 Wohnsitz der Regensburger Bischöfe, wurde damals laut »Regensburger Tagblatt« ein »schwarzer Monster-Elephant« gezeigt. – Die Erbauung des gotischen Doms St. Peter begann nach 1254; die Arbeiten wurden um 1520 vorläufig beendet. – Die erwähnte Person »Thammer« ist nicht bekannt; mit der Garküche ist wohl die bekannte Wurstkuchl (heute: Historische Wurstküche) gemeint, die schon vor 1616 existierte. Die zwischen 1135 und 1146 erbaute »Steinerne Brücke« über die Donau verbindet (das seit 1924 eingemeindete) Stadtamhof mit Regensburg.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 344.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2023

KinderAnekdötchen vom Morgen des 8 Sept

in der Schloßkirche. Eine Bank hinter mir auf der Galerie saß der Prof. Schwarz mit seinem 5 jährigen Töchterlein. Während der musikalischen Aufführung (von Mitgliedern der HofCapelle, die ja unsichtbar aufgestellt sind) fragte das Kind seinen Vater – der mit die Äußerung sogleich ins Ohr mittheilte -: Singt das der König und die Königin?

Mörike teilt die Kinderanekdote – die sich an seinem Geburtstag, dem 8. September 1861 abspielte – der Familie Hartlaub im Brief vom 13. September 1861 mit. Er besuchte damals die 1809 in den Nebengebäuden des Neuen Schlosses errichtete Hofkirche (nicht die gotische Schloßkapelle, die von 1820 bis 1865 als Hofapotheke diente). Der ebenfalls anwesende 1860 zum Professor ernannte Gottlob Schwarz (1819-1879) unterrichtete 1856-1877 als wissenschaftlicher Hauptlehrer am Katharinenstift Religion und Geschichte. Er wurde von seiner Tochter Emma Marie (geb. 1857) begleitet. – König von Württemberg war damals Wilhelm I. (1781-1864); er war verheiratet mit Königin Pauline von Württemberg (1800-1873).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 156-157.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2023

Musterkärtchen
von den letzten Tagen für meine liebe Gretilla
und meinen Kleinselein

D. 6. Aug. Morgens mit Clara in der Schloßkirche Grüneisen gehört. Hierauf in den botanischen Garten. Fanny hatte sich ausgebeten, einmal recht ausschlafen zu dürfen. Bei unserer Heimkunft finden wir sie aber ganz sauber frisiert und sonntäglich angekleidet. Absendung der chinesischen Vase nach Neustadt mit ausführlichen Briefen der Clara an Frau Doktorin und Marie Schott, auch einigen dankbaren Zeilen von mir, nebst meiner Photographie für das Fräulein auf deren Wunsch. Die Vase ist recht schön ausgefallen u. macht gewiß Freude. Fanny legte den bewußten Fächer mit einem selbst verfaßten Schreiben bei, worin es unter Anderem heißt: Ich hätte Ihnen, liebe Frau D. so gerne auch etwas geschenkt, ich wußte aber nichts, da bat ich die Tante, sie solle mir den Fecher geben, denn weil die Leute wirklich so eine Freude an Alterthumern haben, so möchte ich Ihnen diesen als ein Altertum geben p.p.

Mörikes Frau Margarethe geb. Speeth (1818-1903; hier mit dem Kosenamen »Gretilla« erwähnt) hielt sich mit der Tochter Marie (1857-1876; hier als »Kleinselein«, dem schwäbischen Kosewort für »das kleinste Kind«, bezeichnet) am 14. August 1865, dem Datum des Briefes, bei Marie Hibschenberger (Margarethes einstiger Schulfreundin) in Adelsheim auf (vom 26. Juli bis zum 22. August). Das vorliegende, am 6. August entstandene Musterkärtchen, ist das erste von insgesamt neun, die als Brief nach Adelsheim gingen. Mörike war damals mit seiner Tochter Franziska (1855-1930; genannt »Fanny«) und seiner Schwester Klara (1816-1903) in Stuttgart geblieben. – In der Schloßkirche (gemeint ist die 1809 in den Nebengebäuden des neuen Schlosses errichtete Hofkirche) hielt damals Oberkonsistorialrat Karl von Grüneisen (1802-1878) den Gottesdienst. Der von Mörike und seiner Schwester Klara danach besuchte Botanische Garten lag am Beginn der Anlagen, die vom neuen Schloß nach Cannstatt führten, und zwar längs der Neckarstraße. – Die Sendung der chinesischen Vase ist in Mörikes Kalender (SNM) unter dem 6. August verzeichnet. Die Briefe K. Mörikes an Marie Möricke geb. Seyffer (1819-1909) und Marie von Schott verh. Hauke (1838-1921) sowie die erwähnte Photographie sind nicht nachweisbar, auch nicht das Oreiginal der hier zitierten Zeilen von F. Mörike sowie ihr Fächer.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 95-96.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2023

Musterkärtchen von den Kindern.

Wir stehen am Fenster u. sehen auf die Straße.
Ich: Das Haus des HE. Heck ist innen doch recht nett.
Fanny: Ja. Alles eigentlich nobel. Aber klein! Besonders der Abtritt zu klein, ganz wunzig!
Ich. So? Das ist ein Fehler.
Marie. (mit Nachdruck) I bin überzeugt daß net Vier Menschen nei‘ könnten. Wenn Du, Papa und d‘ Mutter und Tante und der Herr Kösting nei gienge, man könnt kei Nadel mehr dazwischen stecken, die Tante und der Herr Kösting müßten wieder raus!

Das hier vorliegende Musterkärtchen sandte Mörike im Brief vom 7. Juli 1862 an seinen engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885). Mörike wohnte damals mit seiner Familie – seiner Frau Margarethe (1818-1903), seinen Töchtern Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) und Marie (1857-1876) sowie seiner Schwester Klara (die von Marie erwähnte Tante; 1816-1903) – in der Stuttgarter Militärstraße 51. Bei dem erwähnten Herrn Heck handelt es sich um den Maler Wilhelm Ernst Robert Heck (1831-1889), der Besitzer des im Jahr 1862 erbauten Hauses Militärstraße 34 (Heck selbst wohnte damals in der Kriegsbergstraße 76). – Karl Kösting (1842-1907) stammte aus Wiesbaden und widmete sich seit 1861 seinen dramatischen Versuchen. Diese legte er, nachdem er 1862 nach Stuttgart gekommen war, im April Mörike vor. Über ihn schrieb Mörike an Hartlaub: »ein ganz wundersames Männchen, klein u.schmal, erst 20 Jahre, natürlich, von bescheidenen guten Sitten und in der That ganz ungewöhnlicher Begabung«. – Das Wort »wunzig« ist die schwäbische Bezeichnung für »winzig«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 204.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juni 2023

… ein Musterkärtchen von Deinem Herzblatt …
[…]

Von 1 Uhr schlief das Kind, gegen Mücken u. Schnacken um u. um beschirmt ein Stündlein im Wagen. Mar. H. brachte von Zeit zu Zeit einen Strauß Erdbeeren und auch die Kleine pflückte dergleichen mit unendlichem Vergnügen da und dort. Um 5 Uhr Abends brachte Constanze den Caffe herausgetragen, ging aber bald, mit Marie, Geschäfte halber, wieder zurück. Während Clärchen sie eine Strecke weit begleitete war ich mit dem Kind (man hatte unterdeß den Platz 2mal gewechselt) auf einem halbbeschatteten Grasweg allein. Sie fuhr den großen Korbwagen auf u. ab; an der Ecke, wo sich der Weg in die vertiefte Wildniß wendet, stand sie plötzlich still, sah dort hinein und fragte mich: »Ist da tei (keine) böse Slanne (Schlange) drin.« O nein. »Wo sind die Slanne«? – »Ganz hinten im Wald sind vielleicht so ein paar ganz kleine, die beisen aber nicht.« »Net? So? I will doß (doch) lieber wieder zu meim Papa hinfahrn«

Das vorliegende Musterkärtchen ist Teil eines Briefes von Mörike und seiner Schwester Klara (1816-1903) vom 6. Juli 1859 an Margarethe Mörike, die sich damals mit der Tochter Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) in Stuttgart aufhielt. Mörike war mit seiner Schwester Klara und seiner Tochter Marie (»die Kleine«; 1857-1876) zur Erholung (vom 25. Juni bis 11. Juli) bei der eng befreundeten Familie Hartlaub in Wimsheim, Oberamt Leonberg. Wilhelm Hartlaub (1804-1885) amtierte dort als Pfarrer seit 1851. Das Pfarrhaus, in dessen Grasgarten sich die vorliegende Begebenheit abspielte, lag an einem Hang. Mörikes damals zweijärige Tochter pflückte mit der Tochter Hartlaubs, Marie (1843-1917), Erdbeeren; letztere mußte später mit ihrer Mutter Konstanze (1811-1888), die den Kaffee in den Garten brachte, zurück ins Pfarrhaus.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 71-72.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Mai 2023

… ein Musterkärtchen von Deinem Herzblatt …
[…]

Als wir gestern Abend um halb 9. Uhr von dem Besuch bei des Barons nach Hause kamen und den untern Grasgarten heraufstiegen sah sie mit einem Lilienstengel neben ihrer Hüterin (M.H.) aus dem Fenster parterre; Ging dann fröhl. mit der Gesellschaft die Treppe hinauf und trieb sich noch eine Zeitlang in dem schwach erleuchteten Öhrn (bei verschlossenem Stiegenthürchen) mit sich selber plaudernd u. singend, herum, unter Anderm hörte ich sie, zwei hohe Lilien in der Hand haltend, folgendes singen (u. zwar nicht Schwäbisch sondern hochdeutsch)
Wer die schöne schöne Blumen
Viwopfen thut
Der ist bös!

Das vorliegende Musterkärtchen ist Teil eines Briefes vom 6. Juli 1859 an Margarethe Mörike, die damals mit der Tochter Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) in Stuttgart blieb, während Mörike mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und seiner Tochter Marie (1857-1876) sich zur Erholung (vom 25. Juni bis 11. Juli) bei der eng befreundeten Familie Hartlaub in Wimsheim aufhielt. Am Tag vor dem Entstehen des Briefes, am 5. Juli, war man zusammen mit Hartlaubs Tochter Marie (verh. Hahn, hier als die »Hüterin« bezeichnet; 1843-1917) zu Besuch bei den »Barons«: gemeint ist damit die Familie des Maximilian Freiherrn von Phull-Rieppur (1825-1867); die Familie lebte auf dem zwischen Wimsheim und Mönsheim gelegenen Schloß Ober-Mönsheim. – Das Wimsheimer Pfarrhaus lag an einem Hang. – Mit »Öhrn«, auch »Eren« oder »Ern« wurde damals der Hausflur bezeichnet. – »Viwopfen« steht für das schwäbisch Verbum »verzopfen«, »auseinander zopfen« (für: zerrupfen, hauptsächlich für Blumen gebraucht).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 72-73.
Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2023

Musterkärtchen
für meine lieben Wimsheimer Freunde

[…] 4/5. Ein Klavier durch Vermittlung des jung. Kauffmanns angeschafft. Reparatur bei Klinkerfuß, unserm Nachbar; Der Sohn stimmt es sehr rein. Dieß ist ein höchst gefälliger, wie die Fanny bemerkte »schöner« junger Mensch, für Musik u. Poesie begeistert: er trug uns mehrere deutsche u. schwedische Volkslieder vor. Da man ihm nach seinem ganzen Benehmen keine Bezahlung anbieten durfte, so brachte ihm Clara die Schererischen Lieder von mir, was ihn ganz glücklich machte.

Im Brief an Familie Hartlaub, den Mörike zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 in Stuttgart geschrieben hat, schildert er Geschehnisse, die sich seit dem Dezember 1864 zugetragen haben. Mörike lebte damals mit seiner Frau Margarethe (1819-1903), seinen Töchtern Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) und Marie (1857-1876) sowie seiner Schwester Klara (1816-1903) in der Stuttgarter Kanzleistraße 8. Die hier zitierte Begebenheit notiert er unter dem 4. und 5. Januar 1865. – Das Klavier, das von Margarethe Mörike später nach Trennung der Eheleute mit nach Mergentheim genommen wurde, kam durch Karl Emil Kauffman (1836-1909) ins Haus, zu jener Zeit Mitglied der Stuttgarter Hofkapelle und von 1877 an Universitätsmusikdirektor in Tübingen. Die Firma des Instrumentenbauers Bernhard Klinckerfuß (1801-1859) befand sich wenige Häuser entfernt in der Kanzleistraße 18. Der Sohn von Klinckerfuß, Apollo (1840-1923), war damals selbst kein Klavierbauer mehr; er verlegte sein Geschäft auf den Handel und wurde zu einem der ersten Instrumentensammler (in seinem Haus verkehrten Johannes Brahms, Hans von Bülow, Clara Schumann und Hugo Wolf). – Bei den »Schererischen Liedern« handelte es sich wohl um die Sammlung »Deutsche Volkslieder mit ihren eigenthümlichen Singweisen« (H. 1-2, Stuttgart 1854-1855, H. 1-6, Stuttgart 1861-1862).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 75.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2023

… Nur ein Musterkärtchen seyn. …
[…]
EINE ALTE GESCHICHTE DIE HEUT WIEDER AUFGEWÄRMT WURDE

Ja ischt no sell a grausa Wärra gwäa?
Wenn der Kohler den Mund zu dieser Frage aufthun will fängt die Agnes, die der Sache überdrüssig ist, entweder zu singen, zu zählen, oder zu lesen an.
Klärchen sagt zu ihr: Agnes, aber hör nur, er fragt so sanft, Du mußt ihm doch noch mal Antwort geben.
Agnes (sehr bereitwillig) Ja lieber Kohler, sieh, es ist ein Kind gewesen, ein kleines Kind.
Kohler, So; also a junga Wärra, koi alta.
Agnes. Ach, gar keine Werre! ein Mensch.
Kohler. Ja, hoscht Du au scho a Wärr gsäa.
Agnes (wendet sich schnell von ihm ab, zu ihrer Leserei).
Kohler Schwätz!
Agnes. Ich hab noch keine gesehen.
Kohler, Ja wia moisch no, daß se aussicht? Wia Amois? oder wia a Egäsle?
Agnes. Was ist denn eine Amois? Wie sieht sie aus?
Kohler I glaub Du witt mi für Narra hau, jetzt verreisse der! (macht Anstalt) (Agnews wehrt ich auf gewohnte Weiße.)

Den Brief, den Mörike am 21. März 1842 in Cleversulzbach an Wilhelm Hartlaub schrieb, beginnt er mit den Versen: »Ist von wichtigen Geschichten / Eben nicht viel zu berichten / Tunkt man doch die Feder ein; / Sollt` es auch von Lust und Scherzen / Unter den zufriednen Herzen / Nur ein Musterkärtchen seyn«. Eines der zahlreichen im Anschluß folgenden Musterkärtchen ist das oben Abgedruckte. Mörike schildert darin - in schwäbischer Mundart – eine Szene, die sonst aus früheren Erwähnungen nicht bekannt ist. Auch ist ein Mann mit Namen »Kohler« nicht nachweisbar. – Die schwäbischen Textteile lauten in Hochdeutsch: »Ja ist nun selbiges eine große Maulwurfsgrille gewesen?«; »So; also eine junge Maulwurfsgrille, keine alte.«; »Ja, hast Du auch schon eine Maulwurfsgrille gesehen?«; »Sag!«; »Ja wie meinst Du denn, daß sie aussieht? Wie eine Ameise? oder wie ein Eidechslein?«; «Ich glaube, Du willst mich zum Narren halten, jetzt zerreiße ich Dich!«. – Als »Werre« bezeichnet Mörike auch ein Phantasiewesen, das er schon 1838 für die Kinder Hartlaubs erfunden hatte.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 33.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2023

Musterkartenbrief
für meine lieben Wermbrechtshäuser
[…]

Mir träumte gegen Morgen, ich hätte einen schönweißen Papierbogen vor mir auf dem ein schwarzes stachlichtes Insekt sehr pressirt hinlief. Du sahst mit zu u. sagtest im Scherz: »Sieh das ist der berühmte PAPIRUS CURSOR!« (dessen Du Dich noch aus Deinen Schuljahren erinnern wirst.)
Ob in solchen Fällen der Traum nicht Bild und Situation auf der Stelle erfindet um des schon in Bereitschaft liegenden Namens u. Witzes willen? Gewiß. Zumalen ich Ihme nur gestehen will, daß es ein blos gemachter Traum ist. Ätsch.

In dem gemeinsam mit seiner Schwester Klara Mörike (1816-1903) an Familie Hartlaub vor dem und am 6. Dezember 1839 verfaßten Schreiben berichtet Mörike in seinem »Musterkartenbrief« überschriebenen Briefteil über insgesamt zehn kleine, selbsterlebte Anekdoten. An welche Begebenheit sich im vorliegenden Text sein enger Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) aus seinen Schuljahren erinnern sollte, ist nicht bekannt: der Begriff »Papirus cursor« (lat. wohl für Papierläufer) ist sonst weder bei Mörike noch bei Hartlaub nachweisbar. – Wermbrechtshausen« ist ein alter Name für Wilhelm Hartlaubs Pfarr- und Heimatdorf Wermutshausen, mit damals ca 250 Einwohnern im Oberamt Mergentheim gelegen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 76.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2023

Musterkärtchen.

[…]

November […]
27. Die Königin zum erstenmal in meiner Lektion. Sie kam mit der Hofdame Massenbach u. Frl. Theiß, das weiße Hündlein dabei, das sogl. seine Tour durch den ganzen Saal machte. Nach einigen an mich gethanen Fragen (»Von wo beginnen Sie die Literatur Geschichte?« pp) nahm sie in ziemlicher Entfernung mit ihrer Häkelarbeit Platz u. hörte aus dem Nibelungenlied den Tod des Siegfrieds u. was zunächst folgt. Am Schluß kam sie nochmals an meinen Katheder, bezeugte ihr Interesse an dem Gegenstand, indem sie hinzufügte: ich habe mich seit 20 Jahren nicht mehr mit Lit.Gesch. beschäftigt. – Wenn sie freundlich ist und lächelt, wobei man ihre schönen Zähne sieht, verbreitet sich e. eigenes, wohlthuendes Licht über ihr äußerst blasses Gesicht. Besonders schön ist ihr Gang.

Der Brief an Familie Hartlaub aus Stuttgart vom 14. Januar 1866 enthält Musterkärtchen, die im Zeitraum zwischen dem 24. September und dem 8. Dezember 1865 entstanden sind. Darunter auch das Vorliegende, das unter dem Datum des 27. Novembers vom Besuch der Königin Olga im Stuttgarter Katharinenstift berichtet. Mörike unterrichtete damals vier Stunden – neben den Fächern deutsche Sprache und Aufsatz stand auch Literaturgeschichte auf dem Stundenplan. Olga Königin von Württemberg, geb. Großfürstin von Rußland (1822-1892), die Protektorin des Katharinenstifts, war verh. mit Karl König von Württemberg (1823-1891). Begleitet wurde sie von der Staatsdame Eveline Freiin von und zu Massenbach (1830-1904), die in ihrem Tagebuch zum damaligen Tag vermerkt: »morgens im Katharinenstift, zur Stunde des Professors Mörike« (vgl. Eveline Freiin von und zu Massenbach, Tagebuch, hrsg.v. R. Uhland, Stuttgart u.a. 1987, S. 210). Außerdem wurde die Königin von Luise Theiss (ca 1814-1888) begleitet; sie war von 1854 bis 1880 Pensionsvorsteherin des Internats des Katharinenstifts Stuttgart.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 125.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2022

Musterkartenbrief
für meine lieben Wermbrechthauser
[…]

Mir ist mein Dispensationsgesuch vom CONsistorium – abgeschlagen! Sie hätten, sagt mir mein Dekan, stark drum cetirt in der Sitzung, indem mehrere für mich gewesen. Auch stehe noch der Weg zum König oder zum Ministerium offen, u. das Dekret scheint selbst so einen Wink zu enthalten. Ich weiß aber noch nicht, was ich thue.

In dem gemeinsam mit seiner Schwester Klara Mörike (1816-1903) an Familie Hartlaub vor dem und am 6. Dezember 1839 geschriebenen Brief berichtet Mörike von der Antwort auf seine Bitte um die »Enthebung von einem BeförderungsExamen«. Mörike hatte im Brief vom 18. Oktober 1839 an Wilhelm I. König von Württemberg um diese »Dispensation« gebeten. Das »Consistorium«, die oberste Behörde des Kirchen- und Schulwesens von Württemberg, das König Wilhelm I. und dem Ministerium des Innern und des Kirchen- und Schulwesens unterstand, sprach in seiner Sitzung vom 25. Oktober 1839 über Mörikes Gesuch und lehnte es offensichtlich ab. Rudolf Friedrich Andler (1786-1842), der damals Dekan in Neuenstadt/Kocher und damit zuständig für das Pfarramt in Cleversulzbach war, berichtete Mörike von dem Ergebnis. Mörike hat sich in dieser Sache nicht mehr an den König oder das Ministerium gewandt. – »Wermbrechtshausen« ist ein alter Name für Wilhelm Hartlaubs Pfarrdorf und Heimatdorf Wermutshausen, mit damals ca 250 Einwohnern im Oberamt Mergentheim gelegen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 77.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2022

NETTE ANEKDOTE; SOEBEN SELBST ERLEBT.

Ich saß mit LOUIS diesen Abend zu einem Glas Bier u. halbgeräucherter Bratwurst im König von England; es waren alle Tische besetzt und an Einer Seite wurde Billard gespielt. Ed. zu einem kleinen Kellner halblaut: »Ist kein Beobachter da?« Er, in beruhigendem Ton, auch nur halblaut: Nein, nein! (Ich hatte natürlich die Zeitung gemeint, er einen Spion, Policeidiener oder dgl.)

Das hier vorliegende, in Stuttgart vom 11.-16. November 1851 an die eng befreundete Familie Hartlaub gerichtete Schreiben von Eduard und Klara Mörike (1816-1903) enthält die oben wiedergegebene Anekdote in einem Briefteil vom 14. November. Mörikes Bruder Ludwig (Louis; 1811-1886), der von 1848 bis zum 1. Mai 1851 Verwalter der Domäne Pürkelgut (bei Regensburg) war, wohnte – nachdem er seine Frau Franziska Henriette geb. Gräfin Normann-Ehrenfels Ende August 1851 verlassen hatte – bei Mörike in Stuttgart in der Augustenstraße 14. – Der Gasthof König von England, in dem die Brüder einkehrten, lag am Alten Schloßplatz 2. – Die Stuttgarter Zeitung »Der Beobachter« erschien von 1833 bis 1920.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1951-1856. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 94-95.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2022

[ohne Überschrift]

Zu Anfang voriger Woche haben wir einige Besuche abgethan, bei HE. RegierungsRath Schliz (dessen Frau allein zu Hause war) OberAmtsRichter Hermann (dessen Frau krankheitshalber nicht sichtbar gewesen) KameralVerwalter Schlotterbeck (den ich allein besuchte, weil wir nicht wußten, daß er noch weibliche Familie und zwar, wie ich fand, eine ganz artige Tochter habe) endlich bei Stadtpfarrer Wüst, wo eben auch die DOKTORIN vorüberhuschte. Er hat mir nicht mißfallen; doch hat er eine sonderbare Art, wizig zu seyn, indem er mit dem trockensten Gesicht etwas hinwirft, was an u. für sich als Wiz nicht kenntlich ist, so daß man nichts daraus zu machen weiß u. denkt der Mann sey zuweilen absent, z. B.

Er. Haben sie den Hartlaub lange nicht gesprochen?
Ich. Vor vierzehn Tagen besuchte er mich kurz.
Er. Er hat hieher doch immer 4 Stunden.
Ich. Man geht sie wohl in dreien.
Er. Wenn er aber an Einem Tag hin u. her will? (MIT UNVERÄNDERTEM ERNST) Er soll sich einen Gaul anschaffen.

Mörike und seine Schwester Klara (1816-1903) waren am 1. November 1844 von Hall nach Mergentheim gezogen. Vorliegende Zeilen – im Brief von Eduard und Klara Mörike an Familie Hartlaub (Mergentheim, 26. und 27. November 1844) – stehen im am 26. November geschriebenen ersten Teil des gemeinsamen Briefes. Einige der ersten Besuche im neuen Wohnort galten dabei angesehenen Mergentheimer Familien. So der Besuch bei Josef von Schliz (1780-1861), Oberregierungsrat, der 1831 auf das Mergentheimer Oberamt kam. Friedrich Karl Hermann (1803-1856), der damals amtierende Oberamtsrichter, war verheiratet mit Regine geb. Raible (1804-1895). Als Kameralverwalter amtierte Immanuel Friedrich Schlotterbeck (1785-1857); er war zu jener Zeit bereits Witwer: seine Frau Marie Friederike Wilhelmine (geb. 1797) war ein Jahr zuvor gestorben; mit ihm im Haushalt lebte noch sein einziges Kind, Mathilde (1822-1880). Evangelischer Stadtpfarrer war seit 1836 Karl Eduard Albert Wüst (1810-1882); er bekleidete auch (bis 1846) das Amt des Oberpräzeptors an der Mergentheimer Schule. Mit der »Doktorin« war Therese Krauß geb. Schlier (1804-1856) gemeint; sie war verheiratet mt dem Mergentheimer Oberamtsarzt Dr. Friedrich Krauß (1803-1885). – Mörikes enger Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885), Pfarrer in Wermutshausen, lebte in dem ungefähr 20 Kilometer von Mergenheim entfernten Pfarrdorf (mit ca 250 Einwohnern). Laut Mörikes Kalender von 1844 (SNM) war Hartlaub vom 10. bis zum 12. November in Mergentheim.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 193.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2022

Musterkärtlein zum Gruß.
[…]

Ed. Jetzt sag mir einmal ganz aufrichtig, Myrriserle, thut Dirs ant nach der Wimsheimer Marie?
Sie (Nach kurzem Besinnen) So viel i weiß – Nein!

Zur Zeit der Entstehung des vorliegenden Musterkärtleins – eine Nachschrift zu einem Brief von Margarethe Mörike an Klara Mörike vom 3. September 1861 – wohnten Mörikes im zweiten Stock des Hauses in der Stuttgarter Militärstraße 51. Die hier geschilderte Szene mit »Myrriserle« – so nannte Mörike gelegentlich seine (damals fast viereinhalbjährige) Tochter Marie (1857-1876) – bezog sich auf einen Besuch Marie Hartlaubs bei Mörikes vom 8. bis zum 27. August. Die mit Mörike eng befreundete Familie von Wilhelm Hartlaub wohnte damals in Wimsheim, einemPfarrdorf im Oberamt Leonberg mit damals etwa 760 Einwohnern. - »Es tut einem ant« heißt im Schwäbischen: Man hat Sehnsucht.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 154.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2022

Musterkärtchen
von den letzten Tagen für meine liebe Gretilla
und mein Kleinselein

[…] D. 9. Kommt eine Sendung vom guten Herrn Künzel aus Heilbronn: ein Heft voll komischer Malereien von Schiller, aus der Zeit seines Aufenthalts bei Körner, als Facsimile in Farbendruck herausgegeben.

Margarethe und Marie Mörike hielten sich am 14. August 1865, dem Datum des Briefes, aus dem hier zitiert wird, bei Marie Hibschenberger (Margarethe Mörikes einstiger Schulfreundin) in Adelsheim auf (vom 26. Juli bis zum 22. August). Das vorliegende Musterkärtchen ist das vierte von neun Musterkärtchen, die zwischen dem 6. und dem 14. August entstanden sind und als Brief nach Adelsheim gingen. Mörike wohnte damals mit seiner Frau Margarethe geb. Speeth (1818-1903; hier mit dem Kosenamen »Gretilla« erwähnt), seinen Töchtern Franziska (1855-1930; genannt »Fanny«) und Marie (1857-1876; hier als »Kleinselein«, dem schwäbischen Kosewort für »das kleinste Kind«, bezeichnet) sowie seiner Schwester Klara (1816-1903) in Stuttgart. – Der Sendung Karl Künzels vom 8. August 1865 (SNM, früher GSA III,4,11) lag bei: »Avanturen des neuen Telemachs oder Leben und Exsertionen Koerners des decenten, consequenten, iquanten etc. von Hogarth (Friedrich von Schiller). In schönen illuminirten Kupfern abgefaßt und mit befriedigenden Erklärungen versehen von Winkelmann (L. F. Huber). Rom 1786. Nach den Original-Zeichnungen Friedrich von Schillers und der Original-Handschrift L. F. Hubers im Einverständnisse mit deren Familien zum ersten Male hrsg. v. Carl Künzel« (Leipzig 1862). Laut der Schiller-Nationalausgabe (Bd 26, S. 437) hat Schiller die witzig-satirischen Zeichnungen über das Leben im Hause seines Freundes Christian Gottfried Körner (1756–1831; später Oberkonsistorialrat) zu dessen 30. Geburtstag am 2. Juli 1786 verfaßt; sein Vorbild war William Hogarth, der die englische Gesellschaft in satirischen Kupferstichfolgen geschildert hatte. – Karl Künzel (1808-1867) war Prokurist der Heilbronner Papierfabrik Rauch und besaß eine berühmte Autographensammlung. – Die Oberamtsstadt Heilbronn hatte damals etwa 15000 Einwohner.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 97.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2022

Musterkärtlein für mein liebes Clärchen.

[…]

Johannes Enderle, BeckenMeister hatte einen Backofen erleuchtet, in welchen eine Person eingeschossen wird, mit den Worten:

Feuer ist in meinem Ofen;
Alles schieß ich gleich hinein,
Sollte Jemand wider Hoffen
Nicht gut Württembergisch seyn

Im vorliegenden Brief an seine Schwester Klara (1816-1903) – geschrieben in Stuttgart nach dem 2. Juli 1853 – teilt Mörike mehrere Musterkärtchen mit. Mörike zitiert dabei aus der bei »Christoph Friederich Cotta, Hof- und Canzley-Buchdrucker« in Ludwigsburg erschienenen »alten gedruckten Denkschrift«, deren vollständiger Titel lautet: »Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Seiner Herzoglichen Durchlaucht, des regierenden Herrn Herzog Carls zu Würtemberg und Töckh etc. nach Höchst Dero beglückten Zurückkunfft aus Italien in Dero Herzogl. Residenz und dritten Haupt-Stadt Ludwigsburg den 11ten Julii 1767. nebst denen auf solche höchsterfreuliche Begebenheit angestellten so wohl allgemeinen als besondern Ehren- und Freuden-Bezeugungen. Mit Herzoglich gnädigster Genehmigung«. – Mörike zitiert im oben wiedergegenen Musterkärtchen auszugsweise aus dem sechsten Viertel (den Seiten 64 und 65) der Denkschrift für Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728-1793). – Johannes Enderle (1702-1785), war Bäcker in Ludwigsburg.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1951-1956. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 152 u.154.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juni 2022

Mitwoch d. 6. JUN. […] Musterkärtchen […]

[…] Am Samstag Morgens 10 Uhr zogen wir zu Vieren. nämlich Clara, ich, Marie Hartlaub, mit dem Kind, welches von einem Schulbuben im bedeckten Korbwäglein gefahren wurde, nach dem sogenannten »Abgrund«, einem sehr schönen einsamen Wald-Platz unweit der Tiefenbronnen Straße, nur eine Viertelstunde von hier. Wir hatten Schinken, hartgesottene Eier, Most, Sitzpolster mit hinausgenommen und hielten unter den herrlichen Tannen Mittag. Wie oft mußte ich denken, wenn doch mein Gretchen nur über diese Stunden bei uns wäre und die Fanny mit! Ich that rein nichts, als vegetiren; ein Buch, Papier u. Bleistift das ich eingesteckt wurde nicht angerührt.

Den hier vorliegenden Brief aus Wimsheim an seine Frau Margarethe (1818-1903) datiert Mörike fälschlichweise auf den 6. Juni: nachweislich war er mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und seiner Tochter Marie (1857-1876) nur vom 25. Juni bis zum 11. Juli 1859 in Wimsheim; daß das Briefdatum vom Mittwoch, dem 6. Juli 1859 sein muß, belegt auch der Brief Marie Hartlaubs (verh. Hahn; 1843-1917) an ihre Schwester Klara (1838-1903) vom 7. Juli 1859: »Am Samstag waren Ed. Cl. Marie und ich von Morgens 10 Uhr, bis Abends 7 Uhr im Abgrund«. Mit »Tiefenbronnen Straße« ist die Straße nach Tiefenbronn, einem südwestlich von Wimsheim gelegenen Pfarrdorf mit etwa 700 Einwohnern, gemeint. – Margarethe Mörike war mit der Tochter Franziska Mörike (gen. Fanny; 1855-1930) in Stuttgart geblieben.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 71.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Mai 2022

… Fastnachts-Scherz der Kinder …
Musterkärtchen.

Sie [Mörikes Töchter Franziska und Marie] haben sich auch heuer wieder und zwar als Bauermädchen verkleidet, und überall im Haus, bei D. Walchers, Schwenks und Kaullas (reichen Judenleuten) eine Visite gemacht. Nachher beschwerte sich die Marie bei mir über die junge MAD. K. »Denk nur, sie hat zu ihrem Mann gesagt: Sieh doch mal, Albert, die nette Thierche!« Ich. »Dirnchen wird sie gesagt haben, Sie ist aus Mainz.« - »Nein Nein! Thierche hat sie gesagt. Das ist unverschämt! Aber ein großes Stück Chocolad hat sie doch Jedem gegeben.«

Das Musterkärtchen teilt Mörike seinem Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) im Brief aus Stuttgart vom 22.-23. März 1867 mit. Mörike wohnte damals mit seiner Frau Margarethe, den Töchtern Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) und Marie (1857-1876) und seiner Schwester Klara (1816-1903) im dritten Stock in der Stuttgarter Kanzleistraße 8. Ebenfalls in diesem Haus wohnten im Erdgeschoß die Witwe Emilie Schwenk geb. Hoppe (1830-1870), im ersten Stock der Partikulier und Geheime Hofrat Albert von Kaulla (1833-1899) mit seiner Frau Bertha geb. Strauß (»Mad. K.«; 1845-1925) und im zweiten Stock der Rechtskonsulent Karl Walcher (1831-1906) mit seiner Frau Mathilde geb. Deeg (1832-1878).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 188.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2022

Musterkärtchen
für die lieben Wimsheimer Freunde.

[…] 20. 21. Unser Kätzlein krank. Abends mit Clara noch bei schlechtem Wetter in die Apotheke um ein Mittelchen. Es stirbt in der Nacht. Herzliche Trauer im Haus. Der Fanny durfte man es Morgens vor der Schule gar nicht sagen; ich erklärte ihr weitläufig daß man das Löblein heut in aller Frühe durch die Berger Botin in die Thierarzneischule, warm zugedeckt, in einem Korb geschickt habe (In der That war es aber bereits durch die Magd in einer Ecke unseres Gartens begraben) Die F. hörte mich an, ohne ein Wort darauf zu sagen und fragte auch die nächsten 14 Tage nichts darüber. Sie hatte offenbar die Lüge gleich durchschaut, versteckte aber gerne ihren Schmerz dahinter. Die Kleine schwieg auch, doch nicht aus Discretion wegen der Alten.

Im Brief an Familie Hartlaub, den Mörike zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 in Stuttgart geschrieben hat, schildert er Geschehnisse, die sich seit dem Dezember 1864 zugetragen haben. Die hier zitierte Begebenheit notiert er unter dem 20. und 21. Dezember 1864. – Mörike lebte damals mit seiner Frau Margarethe (1819-1903), seinen Töchtern Franziska (gen. Fanny; auch als »die Alte« bezeichnet; 1855-1930) und Marie (auch als »die Kleine« bezeichnet; 1857-1876) sowie seiner Schwester Klara (1816-1903) in der Stuttgarter Kanzleistraße 8. Das Kätzlein mit Namen Löblein, das in der Nacht gestorben war, wurde vermutlich von der Magd Rosine im Garten begraben (Letztere war offenbar jene Magd, die bei Familie Mörike nachweislich etwa vom 11. November 1865 bis zum 14. Juni 1867 Dienst tat). Wer die aus dem 1836 nach Stuttgart eingemeindeten Dorf Berg stammende Botin war, ist nicht bekannt. – Die Tierarzneischule, 1821 eingerichtet zur Ausbildung von Tierärzten, lag außerhalb Stuttgarts an der nach Cannstatt führenden Straße.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 74.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2022

… Nur ein Musterkärtchen seyn. …

Wir machten in voriger Woche mit Agnes einen Besuch bei DR Mörikes SEN. Sie hatten eine Frauenvisite, worunter auch die Sängerin. Ich hörte hier zum erstenmal Hetschs Gretchen von ihr. Abgesehn davon, daß das Lied an ein paar Stellen zu hoch für ihre Stimme ist, was sie alsdann zu unerlaubten Deckmitteln nöthigte, sang sie es wahrlich gut, einfach, leidenschaftlich ohne Übertreibung, so daß mich dessen classische Schönheit wieder vollkommen durchdrang. Im äußern Zimmer saß die D. Elsäßer, bescheiden u. ruhig, inmitten des CAFFEEGeschnatters. Als Mar. Möricke, auf Clärchens Antrag, die Arie aus dem Titus sang, die wir einmal von ersterer hörten, konnte ich nicht umhin auch jenes Genusses mit Dank zu erwähnen. Sie nahms gut auf, war aber jetzt zu keinem Tone zu bewegen.

Den Brief, den Mörike am 21. März 1842 in Cleversulzbach an Wilhelm Hartlaub schrieb, beginnt er mit den Versen: »Ist von wichtigen Geschichten / Eben nicht viel zu berichten / Tunkt man doch die Feder ein; / Sollt` es auch von Lust und Scherzen / Unter den zufriednen Herzen / Nur ein Musterkärtchen seyn«. Eines der zahlreichen im Anschluß folgenden Musterkärtchen ist das oben Abgedruckte. Mörike schildert darin einen Besuch am 16. März in Neuenstadt am Kocher bei dem ehemaligen Hof- und Stadtapotheker Dr. phil. Karl Friedrich Wilhelm Möricke (1770-1859), einem Vetter von Mörikes Vater. Er wurde begleitet von seiner Schwester Klara (1816-1903) und Agnes Hartlaub (1834-1878), der ältesten Tochter von Mörikes engstem Freund Wilhelm Hartlaub und dessen Frau Konstanze geb. Kretschmer, die sich seit dem 21. Februar bei in Cleversulzbach aufhielt. – Mit der »Sängerin« war Marie Johanna Möricke geb. Seyffer (1818-1909) gemeint, die mit Dr. med. Karl Abraham Möricke (1806-1874) verheiratet war. Letzterer führte seit 1837 die Neuenstädter Apotheke. Marie Möricke hatte Goethes Gedicht »Gretchens Lied« vorgetragen; es war von Mörikes engem Studienfreund Ludwig Hetsch (1806-1872) vertont worden. Wann und wo Marie Möricke die Mozartsche Arie »Ach nur einmal noch im Leben …« aus Mozarts Oper »Titus«vorgetragen hat, ist nicht bekannt. Sie gehörte jedenfalls zu Mörikes Lieblingsstücken. – Charlotte Elsäßer geb. Gmelin (1813-1870) war die Frau von Mörikes Neuenstädter Hausarzt Karl Elsäßer.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernrad Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 31.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2022

[…] noch ein Musterkärtchen mit Versen u. Zeichnung […]

Inschrift auf zwei gleiche Trinkschalen für Marie und Fanny.

WENN DIE AMSELN WIEDER SINGEN
UND ZUM NESTE FLIEGT DER [STORCH]
TRINKT MAN DEN CAFFE ZU SECHSEN
DORT IM [KLOSTER] ZU LXXXX [LORCH]

NB. Das Kl. ist ganz unrichtig gemacht, wie die l. Agens bezeugen wird. So oft ichs zeichnen soll verläßt mich mein Gedächtniß. Der Wald steht nur der WortVerbindung wegen in solcher Nachbarschaft.

In einem Brief vom 3. März 1868 bedankt sich Wilhelm Hartlaub bei dem damals in Lorch lebenden Mörike für das schöne »Rebus«, das er mit dem Brief vom 14. Februar von dort erhalten hat. Mörike lebte seit dem 18. Juni 1867 (mit Unterbrechungen bis 12. Noverber 1869) in seiner Zweitwohnung in Lorch. Er zieht zunächst mit seiner Frau dorthin, die Schwester Klara bleibt mit den Kindern in Stuttgart. – Das Bilderrätsel hatte Mörike für seine Töchter Marie (1857-1876) und Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) aufgezeichnet (an Stelle des Wortes »Strorch« zeichnete Mörike einen Storch; an Stelle des Wortes »Kloster« zeichnete Mörike das Kloster Lorch). Da Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878) zusammen mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und seinen Kindern ein halbes Jahr zuvor, Mörike an seinem Geburtstag (dem 8. September 1867), in Lorch besucht hatte, kannte sie das Kloster aus eigener Anschauung. – Die in der Nebenbemerkung verwendete Form des Namens »Agens« (für »Agnes«) benutzte gelegentlich Mörikes Tochter Franziska.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 19,1. Briefe 1868-1875. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 20.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2022

Musterkärtchen.
[…]

Eine nette Fabel zur Ergötzlichkeit der Französisch Lesenden.

LA NOIX.
DEUX PETITS GARÇONS TROUVÈRENT UNE NOIX SOUS UN GRAND ARBRE PRÈS DE LEUR VILLAGE. – »ELLE EST À MOI, DIT PIERRE; CAR C’EST MOI QUI L’AI VUE LE PREMIER.« – »NON, ELLE M’APPARTIENT, REPRIT BERNARD: CAR C’EST MOI QUI L’AI RAMASSÉE.« LA-DESSUS S’ENGAGEA ENTRE EUX UNE VIOLENTE QUERELLE.
JE VEUX VOUS METTRE D’ACCORD, DIT UN JEUNE HOMME QUI PASSAIT JUSTEMENT PAR LÀ. IL SE PLAÇA AU MILIEU DES PETITS GARÇONS, CASSA LA NOIX & DIT: L’UNE DES COQUILLES APPARTIENT À CELUI QUI LE PREMIER A VU LA NOIX; L’AUTRE SERA POUR CELUI, QUI L’A RAMASSÉE. QUANT À L’AMANDE, JE LA GARDE POUR PRIX DU JUGEMENT QUE J’AI PORTÉ. CECI, AJOUTA-T-IL EN RIANT, EST LE DÉNOÛMENT HABTITUEL DE LA PLUPART DES PROCÈS.

Der Brief an Familie Hartlaub aus Stuttgart vom 14. Januar 1866 enthält Musterkärtchen, die im Zeitraum zwischen dem 24. September und dem 8. Dezember 1865 entstanden sind. Darunter auch das Vorliegende für die »französisch Lesende«: gemeint ist Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878). Der Text lautet in deutscher Übersetzung: »Die Walnuß. Zwei kleine Jungs fanden eine Walnuß unter einem großen Baum nahe bei ihrem Dorf. – »Sie gehört mir, sagt Peter; weil ich sie als Erster gesehen habe.« – »Nein, sie gehört mir, antwortet Bernhard: weil ich sie aufgesmmelt habe.« Daraufhin entspann sich zwischen ihnen ein heftiger Streit. Ich wünsche, daß ihr euch einigt, sagte ein junger Mann, der in diesem Moment mit ihnen zusammentraf. Er stellte sich zwischen die beiden Jungs, knackt die Nuß & sagt: die ein Hälfte der Nußschale gehört demjenigen, der sie zuerst gesehen hat; die andere soll dem gehören, der sie aufgesammelt hat. Was die Kerne betrifft, betrachte ich diese als Preis für das Urteil, das ich getroffen habe. Dies, fügte er lachend hinzu, ist das übliche Ergebnis für die meisten solcher Verfahren.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 125-126.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2021

Musterkartenbrief
für meine lieben Wermbrechtshauser.

Ich stand vor dem Rasirspiegel auf meinem Zimmer u. schund mir die Haut wie gewöhnlich. Agnes, die einzige Person, die ich bei dieser Verrichtung wohl um mich leiden kann, saß ein paar Schritte hinter mir im großen Sessel u. hörte aufmerksam den Versen zu, die ich dazwischen aus dem Stegreif machte. Ihr künftiger Abgang von hier war d. Gegenstand des kläglichen Gedichts. Sie war zulezt ganz still, nachdem sie bei den ersten Strophen, wo Ihr kommt und aussteigt, viel gelacht hatte. Am Ende aber als es hieß:

Jezt, Klärchen, scheid‘ ich aus dem Haus,
Brich mir den lezten Blumenstrauß,
Gib mir den lezten Abschiedskuß,
Weil ich soweit von hinnen muß –

bemerkt‘ ich durch den Spiegel, daß ihr die hellen Thränen über die Backen schlichen. Natürlich wurde sogleich die heiterste Wendung gemacht u. alles wieder ausgelöscht. Doch sagte sie nachher den Andern in der vordern Stube: Die Abschiedslieder möge sie nicht.

Die älteste Tochter von Mörikes engstem Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885), Agnes (1834-1878), wohnte vom August 1839 bis Februar 1840 bei Mörike in Cleversulzbach. Das Pfarrhaus hatte in der Bel-Etage neben Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche noch drei weitere Zimmer und eine Magdkammer.
Von einer Begebenheit mit Agnes berichtet Mörike in einem Brief an Familie Hartlaub, den er vor dem und am 6. Dezember 1839 als Teil eines Briefs von ihm und seiner Schwester Klara (1816-1903) verfaßt hat. Den Cleversulzbacher Pfarrhaushalt führten damals seine Mutter Charlotte Dorothea geb. Beyer ((1771-1841) zusammen mit seiner Schwester. Agnes Hartlaub, die eigentlich bereits im Dezember wieder nach Wermutshausen (Wermbrechtshausen ist ein alter Namen für Hartlaubs Pfarrdorf mit damals ca 250 Einwohnern im Oberamt Mergentheim) zu ihren Eltern Wilhelm und Konstanze Hartlaub zurückkehren sollte, blieb bis zum 21. Februar 1840 in Cleversulzbach.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 73-74.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2021

Musterkärtchen u. Lesefrüchte
[…]

In Hochstetters (Prof. u. Stadtpfarrers zu Eßlingen) populärer Mineralogie (1836.) fand ich folgende immerhin beachtenswerthe Stelle, wo er von Meteorsteinen handelt.
»In der Apostelgeschichte CAP. 19, V. 35. lesen wir auch von einem Meteorsteine. Luther übersezt zwar: ›Das himmlische Bild‹, was auch nicht ganz unrichtig ist, weil die Meteorsteine als himmlische Bilder verehrt wurde, aber das Wort im Grundtext heißt deutlich: ›Das vom Himmel Gefallene.‹ Wahrschnl. wird die Sache dadurch, daß es mehrere alte Münzen von Ephesus gibt, auf denen ein Meteorstein abgebildet ist – denn die Alten haben diese Steine als einen heiligen Gegenstand häufig auf Münzen abgebildet und deutlich bezeichnet (nemlich der Stein ist jederzeit auf einem Gestell dargestellt u. drüber ein Stern, um anzudeuten, daß er mit einem Stern oder einer Feuerkugel vom Himmel gekommen sey). Plinius sagt zwar, das Bild oder Symbol der Diana in Ephesus sey von Holz gewesen; wenn aber auch dieß so ist, so kann doch außer einem Bilde von Holz auch ein Meteorstein dort als Symbold der Diana verehrt worden seyn.
(In dem Tempel zu MECCA wird heutzutage noch ein Met.st. welcher schon viele Jahrhunderte als ein Heiligthum gilt, von den Mahommedanern verehrt.)«

Im Brief an Wilhelm Hartlaub (1804-1885) vom 18. November 1844, geschrieben in Mörikes neuem Wohnort Mergentheim, berichtet er von seinem neuen Steckenpferd, dem Sammeln von Versteinerungen. Die »Populäre Mineralogie oder die Fossilien- und Gebirgskunde für alle Stände, insbesondere für die Jugend und für Lehrer an Real-, Gewerbs- und Volksschulen, auch für Geistliche, Pharmaceuten, Gewerbsmänner und Landwirthe« (mit 12 Steindrucktafeln, Reutlingen 1836), aus der er hier zitiert, wurde von Christian Ferdinand Hochstetter (1787-1860), Stadtpfarrer und Professor am Hauptschullehrerseminar in Esslingen, verfaßt. Mörikes Abschrift ist mit dem Original (S. 312-313) bis auf wenige Veränderungen durch Abkürzungen und Interpunktionszeichen identisch.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 185-186.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2021

Musterkärtlein vom letzten Mitwoch.

Wolff begegnet mir im Katharinenstift beim Direktionszimmer u. sagt gleich mit großer Lebhaftigkeit: Weißt Du auch was der sonderbare Stein seyn wird den Du mir neulich gezeigt hast? Ein Meteorstein! Siedend heiß fiel mirs neulich über der Zeitung ein, wo ich von einem solchen las. Schick ihn doch Morgen durch die Fanny, so will ich den Kurr darum fragen. Dieß geschah. Heut bringt sie folgendes Billet mit nach Haus.
[»] Schade um die schönen Hoffnungen, die ich in Dir erweckt. Es ist gemeine, ganz gemeine Eisenschlacke, das Blau von dem Titan, der im Eisen war. Es finde sich im Harz häufig, bei uns seltener. Vom Meteorstein habe ich übrigens, klug wie eine Schlange, nichts gesagt, um Dich und mich nicht zu compromittiren. Hzh gr. W [«]
Es ist eine schwarze Masse die ich vor vielen Jahren einmal bei Hall am Weg gefunden hatte.

Das vorliegende Musterkärtchen muß Mörike zwischen Ende Oktober 1862 und dem 15. Juli 1866 aus Stuttgart an Wilhelm Hartlaub geschickt haben (vgl. Briefe, Bd. 18, S. 543 f.). In dieser Zeit war Karl Wolff (1803-1869) Rektor des Katharinenstifts in Stuttgart, an dem sowohl Mörike als auch Johann Gottlieb von Kurr (1798-1870) als Lehrer tätig waren. Kurr, Professor für Botanik und Zoologie und Autor vieler Veröffentlichungen über Mineralogie, unterrichtete dort von 1839 bis zu seinem Tod auch Naturgeschichte (Antropologie). – Mörikes Tochter Franziska (1855-1930; gen. Fanny) ging seit Mitte Oktober 1861 am Katharinenstift zur Schule. Die Abkürzung »Hzh gr. W« auf dem »Billet«, das sie mit nach Hause brachte, steht für »herzlich grüßend Wolff«. – In Hall, einer Oberamtsstadt im Jagstkreis mit damals etwa 100 Einwohnern, wohnte Mörike im Jahr 1844 einige Monate. Er sammelte in dieser Zeit leidenschaftlich Petrefakten.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 138.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2021

Ein »artliches« Curiosum

muß ich doch noch beisetzen.
Es ist Ihnen wohl auch wie mir schon hundertmal passirt, daß während Sie ein Wort, zumal ein seltener vorkommendes, für Sich lasen oder dachten, im selben Augenblick dasselbe Wort ganz zufällig von Jemand Anderem in Ihrer Nähe ausgesprochen wurde, was alsdann immerhin etwas Frappantes hat. Auffallender geschah mir dieß niemals als neulich, da ich auf meinem Zimmer Fischers Bemerkung über Ihr »gleich Sonnen sprühendes Mückenheer« las und in dem nemlichen Moment meine jüngste Tochter, in der Kammer neben mit sich selber schwätzend, den Ausdruck Sonnenmucken brauchte. – Das Wort an u. für sich erklärt sich übrigens aus einem Spaß den ich vor etwa einem Vierteljahr den Kindern einigemal machte. Ich legte meine Hand so auf den Fenstersims daß die hereinfallende Sonne einen kleinen Diamant an meinem Ring berührte der denn seine runden farbigen Lichter auf die nächste Wandverkleidung warf, woran ich sie beliebig auf und niederlaufen ließ. Ich sagte nicht woher die Dinger kommen, sie wurden als lebende Wesen betrachtet und Sonnenmucken genannt.

Es ist der Brief an Karl Friedrich Hartmann Mayer (1786-1870) vom 14. September 1859, dem Mörike ein »Musterkärtchen« beifügt, das er als »artliches« Kuriosum überschreibt (»artlich«: ein seit dem 18. Jahrhundert durch das gleichbedeutende »artig« verdrängtes Wort). Mayer, den Mörike seit 1841 bei der Redaktion seiner Gedichte beriet, lebte seit 1843 als Oberjustizrat in Tübingen. Mörike wohnte zur Zeit der Entstehung des Musterkärtchens in Stuttgart in der Militärstraße 51; die Familie war dort in der im zweiten Stock gelegenen Wohnung Anfang September eingezogen. Mörikes Zimmer befand sich auf der Westseite der Wohnung. – Johann Georg Fischer (1816-1897) hatte zu Mayers Gedicht »Sonnenuntergang« zum Vers »Und der Mücken Heer gleich Sonnen Leuchtend ob der Tiefe sprüht!« notiert: »ist mir physikalisch und ästhetisch bedenklich«. – Mörikes jüngste Tochter Marie war damals zwei Jahre alt (gest. 1876), seine Tochter Franziska (gen.Fanny) war schon 1855 geboren worden (gest. 1930).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 81-82.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2021

Musterkärtchen.

E. ist beschäftigt sein Danksagungsschreiben an die Kronprizessin zusammen zu machen u. Agnes hat ein Licht gebracht.
A. Nimmst Du das AmtsSigel dazu, oder Dein eigenes?
E. Seit meiner Absetzung führ ich kein Amtssigill mehr. Du bringst mich in Verlegenheit durch solche Fragen.
(Pause.)
Übrigens war mirs immer bang so oft ichs brauchen sollte. Es war beinah zu schwer für Einen Mann!
A. Zu schwer? Des Vaters seins ist ziemlich leicht.
E. Das meine wog bei 3 Centner. Es war freilich auch ein größeres Amt.
A. (lächelt auf die bekannte Weise.)

Zur Zeit der Entstehung des vorliegenden Musterkärtchens war Agnes Hartlaub (1834-1878) zusammen mit ihrer Schwester Klara (1838-1903) zu Besuch bei Mörike in Mergentheim. Es ist dem Brief vom 10. Dezember 1846 angefügt, der von Mörike, seiner Schwester Klara (1816-1903) und Agnes Hartlaub nach Wermutshausen an die Familie Hartlaub gesandt wurde. Der erwähnte – nicht nachweisbare – Brief an Olga Kronprizessin von Württemberg (1822-1892) muß zwischen dem 1. und 10. Dezember geschrieben worden sein. Mörike, der der Kronprinzessin Olga ein gebundenes Exemplar seiner »Idylle vom Bodensee« zugesandt hatte, bedankt sich darin für das am 1. Dezember empfangene Geldgeschenk von 46 Gulden. – Mörike war am 13. August 1843 aus dem Pfarramt Cleversulzbach, Oberamt Neckarsulm, ausgeschieden. Der Vater von Agnes, Mörikes engster Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885), amtierte damals als Pfarrer in Wermutshausen, Oberamt Mergentheim.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1999, S. 90.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2021

Musterkärtlein für mein liebes Clärchen

Aus einer alten gedruckten Denkschrift in Quart mit Umschlag von Silber-BlumenPapier:
Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Sr. herzogl. Durchl. des HE. pp Herzog Carls nach höchstDero beglückten Zurückkunft aus Italien in Dero herzogl. Residenz LUDWIGSBURG, den 11 Juli 1767
[...] Den größten Theil des Buchs nimmt die Beschreibung der großen ILLUMINATION ein. Sämmtliche Inschriften Haus für Haus – mit seltenen Ausnahmen alle unbegreifl. Geschmacklos: z.B.
Sechstes Viertel NRO. LXXXI OberAmtm. Kerner. »Die steinerne Säulen und Arcaden waren mit 100 Lampen besezt. Der MERCURIUS, welcher in der Hand einen Brief hatte mit der DEVISE:

Karl hält noch ferner unsrer Stadt
Was Er bisher verheißen hat,
Das darf man in die Zeitung schreiben:
Hier soll die Residenz verbleiben.

Klara Mörike (1816-1903), an die vorliegendes, nach dem 2. Juli 1853 in Stuttgart entstandenes Schreiben gerichtet ist, hielt sich damals seit dem 18. Juni in Mergentheim bei Mörikes Schwiegermutter Josephine Speeth geb. Schaupp verw. Gavirati (1790-1860) auf. In dem Brief teilt Mörike seiner Schwester mehrere Musterkärtchen mit. Der vollständige Titel der bei »Christoph Friederich Cotta, Hof- und Canzley-Buchdrucker« in Ludwigsburg erschienenen »alten gedruckten Denkschrift«, aus der Mörike einige dieser Musterkärtchen zitiert, lautet: »Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Seiner Herzoglichen Durchlaucht, des regierenden Herrn Herzog Carls zu Würtemberg und Töckh etc. nach Höchst Dero beglückten Zurückkunfft aus Italien in Dero Herzogl. Residenz und dritten Haupt-Stadt Ludwigsburg den 11ten Julii 1767. nebst denen auf solche höchsterfreuliche Begebenheit angestellten so wohl allgemeinen als besondern Ehren- und Freuden-Bezeugungen. Mit Herzoglich gnädigster Genehmigung«. Mörike zitiert im oben wiedergegenen Musterkärtchen auszugsweise aus dem sechsten Viertel (den Seiten 64 und 65) der Denkschrift für Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728-1793). – Der Ludwigsburger Oberamtmann und Regierungsrat Christoph Ludwig Kerner (1744-1799), war 1766 ins Amt gekommen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1851-1856. Hrsg. v. Berhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 153-154.


Juni 2021

Musterkärtchen,
[…]

Die F. kann den »Spielhansel«, durch öftere Wiederholung von mir, ganz auswendig. Gewöhnlich fang ich ihn schon Morgens im Bett, wenn sie sich erst die Augen ausreibt, im breitesten Bombeaga Dialekt zu recitiren an. Dabei wird sie augenblicklich völlig wach u. corrigirt mir jede kleine Abweichung vom ächten Text, mit um so größerer Aufmerksamkeit, weil ihr jede solche Nachweisung ein Stückchen Zucker od. dergl. einträgt. Als ich einmal das Märchen hochdeutsch anfing verhüllte sie sich, gleichsam aus Widerwillen, das Gesicht und lachte schrecklich. Das andere sey gröber aber schöner.

Mörike und seine Frau Margarethe (geb. Speeth, 1818-1903) haben am 2. Juni 1860 gemeinsam einen Brief an Wilhelm Hartlaub (1804-1885) geschickt. Am Ende des Schreibens fügt Mörike noch drei Musterkärtchen an, von denen hier das letzte wiedergegeben ist. Er berichtet darin von seiner älteren Tochter Franziska Mörike gen. Fanny (hier mit »F.« bezeichnet; 1855-1936), der er wohl häufiger das Märchen »Der Spielhansel« vorgelesen hat. »De Spielhansl« war seit der zweiten Auflage von 1819 in den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm enthalten (vgl. Bd. 1 der Großen Ausgabe, 7. Aufl., Göttingen 1857, S. 414-416). – Der Ausdruck »Bombeaga« steht für »Bamberger«; so bezeichnet Mörike auch eine Phantasiefigur, in deren oberfränkischen Dialekt Mörike manchmal in seinen Briefen an Wilhlem Hartlaub verfällt. – Mörike wohnte damals mit seiner Familie in der Stuttgarter Militärstraße 51.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 109.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Mai 2021

Musterkartenbrief
[…]

Mir träumte gegen Morgen, ich hätte einen schönweißen Papierbogen vor mir auf dem ein schwarzes stachlichtes Insekt sehr pressirt hinlief.. Du sahst mir zu u. sagtest im Scherz::»Sieh das ist der berühmte PAPIRIUS CURSOR!« (dessen Du Dich noch aus Deinen Schuljahren erinnern wirst.)
Ob in solchen Fällen der Traum nicht Bild und Situation auf der Stelle erfindet um des schon in Bereitschaft liegenden Namens u. Witzes willen? Gewiß. Zumalen ich Ihme nur gestehen will, daß es ein blos gemachter Traum ist. Ätsch.

Den hier wiedergegebenen Scherz teilt Mörike an Familie Hartlauib mit. Er ist Teil eines Briefs von Eduard und Klara Mörike, den beide vor dem und am 6. Dezember 1839 in Cleversulzbach geschrieben haben. – »Papirius Cursor« kann lat. etwa stehen für: »Papierläufer«. Mörike spielt hier aber auf die gemeinsame Schulzeit mit Wilhelm Hartlaub (1804-1885) an, während der sicherlich der Name Lucius Papirius Cursor – der Name mehrerer römischer Tribunen und Feldherrn – im Unterricht erwähnt wurde.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 76.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2021

Musterkärtchen
für die lieben Wimsheimer Freunde.

[…] 19. Im Katharinenst. Scenen aus d. Fiesco. Großer Ärger über eine Schwätzerin. Deßhalb am Schluß der Stunde eine lange Strafrede, ins Allgemeine, weil ich das Mädchen nicht kannte. (Nachher erfuhr ich v. Wolff, daß es ein Töchterchen Pischeks war, das er sehr gern zu haben scheint; mir war es darum leid sie so beschämt zu haben. »Thut nichts! sie wird von mir noch besonders gerüffelt.«

Im Brief an Familie Hartlaub, den Mörike zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 in Stuttgart geschrieben hat, schildert er Geschehnisse, die sich seit dem Dezember 1864 zugetragen haben. Die hier zitierte Begebenheit während einer Schulstunde notiert er unter dem 19. Dezember 1864. Mörike unterrichtete damals »Literatur« am Stuttgarter Katharinenstift, einer Mädchenschule des Adels und wohlhabenden Bürgertums. Sein enger Freund Karl Wolff (1803-1869) war seit 1843 Rektor der Schule. Mörike war dort seit Oktober 1851 als Lehrer im Fach Literatur angestellt. Von Wolff erfuhr Mörike kurz darauf, daß die „Schwätzerin“ die Tochter Olga des beiden bekannten Johann Baptist Pischek (1814-1873) war. Olga Pischek (geb. 1850) besuchte im Schuljahr 1864/65 die achte Klasse am Katharinenstift.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 74.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2021

Ich machte der Agnes die Beschreibung einer kunstreichen hölzernen Uhr, die ich beim Kräutermännlein sah. Sie stellt eine Mühle vor. Bei jeder Viertelstunde hört man das Glöckchen und kommt der Müller zum Vorschein. Hier werde die Zeit klein gemahlen.

Den Brief, den Mörike am 21. März 1842 in Cleversulzbach an Wilhelm Hartlaub schrieb, beginnt er mit den Versen: »Ist von wichtigen Geschichten / Eben nicht viel zu berichten / Tunkt man doch die Feder ein; / Sollt` es auch von Lust und Scherzen / Unter den zufriednen Herzen / Nur ein Musterkärtchen seyn«. Eines der zahlreichen im Anschluß folgenden Musterkärtchen ist das oben abgedruckte. Agnes Hartlaub (1834-1878), die älteste Tochter von Mörikes engstem Freund Wilhelm Hartlaub und dessen Frau Konstanze geb. Kretschmer, hielt sich seit dem 21. Februar bei Mörike in Cleversulzbach auf. Sie kehrte erst am 16. Mai zusammen mit Klara Mörike nach Wermutshausen zurück. Zu der damals achtjährigen Agnes stand Mörike in besonders enger väterlich-freundschaftlicher Beziehung. – Das »Kräutermännlein« war einer der von Mörike erfundenen Kobolde. Solche Kobolde, wie etwa auch das »Waldfegerlein» oder das »Walbwibichlein« nennt Mörike immer wieder in seinen Briefen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 31.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2021

… KinderReden …

»Sieh, Fanny, dieser Mann da in dem Buch hat gesagt, ich sey ein schlechter Versmacher« – (Ein Dichter! – corrigirte mich Marile augenblicklich; ich hatte diesen Ausdruck nicht gebraucht, um eher verstanden zu werden – sie müssen ihn aber sonsther schon richtig aufgefaßt haben) »Was sagst Du dazu, Alte?« Sie, mit aufrichtiger Entrüstung: Wie heißt denn der. Johannes Minckwitz. So. Der soll nur einmal kommen! Dem will ichs aber unter seine Nas‘ zwängen! (IPSISSIMA VERBA, selbsteigene Redensart) – Ja was sagst Du ihm aber? Sie (sich im Anlauf übernehmend, so daß es ziemlich matt herauskommt): Sie sind ein unartiger, dummer Gsell! Wer darf denn so von einem Lehrer sprechen!?! Der Policei zeig ichs an! – Später schien ihr die Sache doch im Kopf herumzugehn u. sie fing wieder an: Ja Vater kannst Du aber das Wort nicht mehr von Dir wegmachen? – »Ich wüßt nicht wie« »Ich mein‘, mit dem ALESTICUM!« (Sie meinte GUMMI ELAST., im Wahn, es seien nur die zwei Worte, die auch blos in diesem Einen Exemplar vorkämen.
Ich: Das ist 2000mal gedruckt u. wird wie die Zeitung in alle Häuser getragen. Sieht mich groß an, gewißermaßen mitleidig, frißt aber dann doch ruhig am Fenster ihren Apfel fort. Den andern Tag beim Aufstehn, ich mit tiefem Seufzen: Der Minckwitz, der Minckwitz! (im Ton von ADAS: die Ölmachen, die Ölmachen!) O Vater! sagte sie: das thut uns nichts! unser HerrGott weiß doch, daß Du ein braver bist.

Mörike erwähnt die hier mitgeteilte Begebenheit im Brief an Wilhelm Hartlaub zwischen dem 21. und dem 28. Februar 1861. Damals wohnte er mit seiner Familie in der Stuttgarter Militärstraße 51. Er schildert darin eine Unterhaltung mit seinen Töchtern Franziska gen. Fanny (1855-1930), oftmals auch als die »Alte« bezeichnet, und Marie (1857-1876). Bei dem »Mann«, den er dabei zitiert, handelt es sich um Johannes Minckwitz (1812-1885), damals Professor in Leipzig, der vor allem als Übersetzer aus den antiken Sprachen bekannt geworden ist. Er war Autor der Publikation »Der neuhochdeutsche Parnaß. 1740 bis 1860« (Eine Grundlage zum besseren Verständnisse unserer Litteraturgeschichte in Biographien, Charakteristiken und Beispielen unserer vorzüglichsten Dichter, Leipzig 1861). Darin druckt er unter anderem Mörikes Gedichte »Josephine«, »Verborgenheit« und »Die schöne Buche« ab und bezeichnet ihn als »vielgefeierte[n], aber mittelmäßige[n] Lyriker«. Und er urteilt an anderer Stelle: »Seine Naivetät vollends ist nicht naiv, sondern so beschaffen, daß sie meist dem Kindischen sehr nahe kommt«. – Damals wurde »Kautschuk« auch als »Gummi elasticum« bezeichnet. – Mit »Ada« ist Wilhelm Hartlaubs Tochter Adelheid (1836-1841) gemeint; in ihrem fränkischen Dialekt (»Machen« für »Magen«) gebrauchte sie – wohl während eines Besuchs bei Mörike in Cleversulzbach – das alte deutsche Wort »Ölmagen« (für: kultivierter Mohn).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 131-132.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2021

Musterkärtchen
[…]
OCTOBER.
[…]
6. Auf Einladung der Frau Lempp in deren Haus beim Caffe die Dichterin Wudenow kennen gelernt. Sie ist, seit mehreren Jahren mit einer fixen Idee behaftet, in der Zellerischen Anstalt zu Winnenthal u. noch nicht völlig geheilt. Friz Reuter hat ihre plattdeutschen Poesien herausgegeben, welche viel Liebliches enthalten. Sie ist im Gespräch höchst lebendig, doch nicht exaltirt und wahrhaft bescheiden. Während der ganzen Unterhaltung kam von ihren Seltsamkeiten nicht das Geringste zum Vorschein, nur am Ende, als ihr Mädchen kam um sie auf die Eisenbahn abzuholen, blieb sie ängstlich auf dem Sopha sitzen, bis man meinen Hut der auf einem Tisch bei der Thüre lag, von dort entfernt hatte. Das ging indeß ganz in der Stille, nur durch geheim Winke vor sich, während ich seitwärts die Malereien an der Wand betrachtete. Sie fürchtet sich tödtlich an gewiße Dinge mit dem Kleid zu streifen, und so hatte man Sorge wie es beim Einsteigen in den Wagen abgehen werde, denn schon war es die höchste Zeit u. nach dem »Ferrtig!« gilt kein langes Federlesen mehr.

Der Brief an Familie Hartlaub aus Stuttgart vom 14. Januar 1866 enthält Musterkärtchen, die im Zeitraum zwischen dem 24. September und dem 8. Dezember 1865 entstanden sind. Darunter auch das Vorliegende, in dem Mörike einen Besuch bei Marie Lempp schildert: In seinem Kalender von 1865 (SNM) notierte Mörike unter dem 6. Oktober:»Die Dichterin Wudenow bei Frau Lempp besucht«. Alwine Wuthenow geb. Balthasar (1820-1908) war an diesem Tag bei der Malein Marie Lempp geb. Reiniger (1808-1893) zu Gast. Letztere wohnte in der Stuttgarter Paulinenstraße (Nr. 9) und war mit dem 1863 verstorbenen Schwager von Mörikes Kusine Luise Lempp, dem Obersteuerrat Eberhard Albrecht Lempp, verheiratet. Alwine Wuthenow aus Greifswald hielt sich wegen »Geistesstörung« seit 1862 in der Anstalt Winnenthal auf und wurde erst 1867 von Albert von Zeller als »gebessert« entlassen (Ludwigsburg, Staatsarchiv F 235/II und III). Der Schriftsteller Fritz Reuter (1810-1874) hat ihre niederdeutschen Dichtungen gefördert und gab sie unter dem Titel »En poa Blomen ut Annmariek Schulten ehren Goahrn« (Greifswald, Leipzig 1858) heraus. In Mörikes Nachlaß (SNM, früher GSA) ist ein Gedicht überliefert, das sie an ihn gerichtet hat.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 121.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2020

Musterkärtchen für Dich.

IMPROMPTU AN JOLI

(als er, nach einer Edelthat der Bescheidenheit, von mir, von Clärchen u. Mutter wechselsweise auf den Arm genommen und, bis zu seinem Überdruß, geliebkost wurde)

Die ganz‘ Welt ist in dich verliebt
Und läßt dir keine Ruh,
Und wenns im Himmel Hundle giebt
So sind sie grad wie du!

Das vorliegende Musterkärtchen sendet Mörike in seinem Brief vom 29. Dezember 1837 an seinen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885), der damals mit seiner Familie in Wermutshausen bei Mergentheim lebte. Der am Ende des Briefs mitgeteilte Vierzeiler ist an seinen Hund Joli (franz. der Hübsche, Artige), ein Spitz, gerichtet. Zur Zeit der Entstehung des Gedichts amtierte Mörike als Pfarrer in Cleversulzbach bei Neuenstadt am Kocher. Joli begleitete Mörike bereits von 1831 an; er wurde am 13. Mai 1842 beim Streunen erschossen. – Das Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon von 1838 erklärt den Begriff »Impromptu« noch folgendermaßen: »[Das] Impromptu ist ein […] Ausdruck, [der … ] einen geistreichen, geschickt in Versen oder in Prosa vorgebrachten Einfall bezeichnet. […] viele leicht hingeworfene […] kleinere Gedichte gehören in die Classe der Impromptus«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 12. Briefe 1833-1838. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 157-158.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2020

Musterkärtchen u. Lesefrüchte.
[…]

Als Beilage zu einem Aufsatz über den Steinbruch bei Öningen u. dessen Petrefakten (in den Denkschriften der Gesellschaft schwäbischer Ärzte u. Naturforscher. B. COTTA 1805. 1 Bd) von einem D. Karg zu Constanz, fand ich eine gute Abbildung des durch den alten Scheuchzer so berühmt gewordenen Petrefakts, in welchem er einen entschiedenen Antropolithen entdeckt zu haben glaubte. Später ward es von Geßner, Gmelin, Blumenbach u. A., auch vom Verf. jenes Aufsatzes für das Skelet eines Fisches u. zwar eines Wels gehalten; jedoch in einem Nachtrag schon zu eben dieser Abhandlung heißt es daß »dem HE. Prof. Kielmaier in Tübingen« (dem kürzl. verstorbenen Staatsrath) zuerst »die Ähnlichkeit mit einem großen kriechenden Amphibio« aufgefallen sey. Nachher erkannte CUVIER einen großen Salamander (wenn ich mich recht erinnerte) darin.

Im Brief vom 18. November 1844 (Mergentheim) sandte Mörike »Musterkärtchen u. Lesefrüchte« an Wilhelm Hartlaub (1804-1885). In dem hier wiedergegebnen ersten, mit »1.« überschrieben Teil zitiert er aus dem Abdruck des Aufsatzes »Über den Steinbruch zu Öningen bey Stein am Rheine und dessen Petrefacte« in den bei Cotta erschienenen »Denkschriften der vaterländischen Gesellschaft der Ärtze und Naturforscher Schwabens« (Bd. 1, mit drei Kupfern, Tübingen 1805, S. 1-74). Autor dieses Beitrags war der damalige Konstanzer Stadtarzt und Naturkundelehrer Josef Maximilian Karg (1762-1808). Im letzten Teil von Kargs Abhandlung, aus der Mörike in dem hier wiedergegebenen Musterkärtchen zitiert, heißt es: »Herrn Professor Kielmeyer in Tübingen fiel zuerst die mit den Verhältnissen der Theile eines Fischscelets gar nicht harmonirende Form und Stellung der Extremitäten dieses Skelets auf, und er äusserte den Gedanken, daß es in dieser Rücksicht sowohl, als in der Form des Kopfs, weit mehr Ähnlichkeit mit einem grossen kriechenden Amphibio habe«. Der in diesem Zitat erwähnte Karl Friedrich von Kielmeyer (1765-1844), Professor für Naturwissenschaften an der Universität Tübingen, war kurze Zeit vorher (am 24. September) gestorben. – Der Züricher Stadtoberarzt und Professor der Mathematik Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) beschrieb als erster Naturforscher fossilie Pflanzen und Tiere. Die Versteinerung eines Menschen, die Scheuchzer glaubte, entdeckt zu haben, ist auf der dem Kargschen Aufsatz beigegeben zweiten Kupfertafel als »Fig. 3«abgebildet. Später wurde das Fossil durch den Franzosen Georges Cuvier (1769 bis 1832) als das Skelett eines ausgestorbenen Riesensalamanders erkannt und als Andrias scheuchzeri benannt. – Johann Geßner (1709-1790) war Professor für Mathematik und Physik in Zürich, Johann Friedrich Gmelin (1748-1804) Professor für Botanik, Chemie, Medizin, Philosophie und Mineralogie in Göttingen und – ebenfalls dort – war Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) Professor für Naturwissenschaften und Medizin.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 184.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2020

MUSTERKÄRTCHEN
[...]

Man will ja schon früher, im Schloß in demselben Eckzimmer, das jetzt HE. Koch bewohnt, zu ganz ungewöhnlicher Zeit u. wenn kein Mensch in dem Gebäude war zuweilen Licht gesehen haben, auch heut bemerkten wirs im Herweg ganz deutlich. […] Ich rieth, sich auf der Stelle zu überzeugen. Wir liefen nach dem Garten und schnellen Schritts um nicht zu spät zu kommen, rechts durch den Laubgang hin und sofort bis zum Schlosse, wo in der That das lezte Fenster des oberen Stocks auf der Westseite erleuchtet war; wir bogen, leiser auftretend, um die Ecke des Sees u. fanden auch die beiden andern, südlichen Fenster des Zimmers auf gleiche Weise erhellt, die Laden des Einen zur Hälfte geschlossen; es war ein sanft gedämpftes Licht. Wir schauten eine kleine Weile stillschweigend hinauf. Was meinen Sie, HE. DOKTOR? – flüsterte Fischer u. faßte mich, durch die ungewöhnliche Stimmung gehoben, vertraulich unterm Arm. Ich meinte, eine Magd könnte vielleicht noch droben beschäftigt seyn, oder ein guter Freund den Koch erwarten, oder dieser selbst habe sein Licht absichtlich brennen lassen in der Meinung er komme gleich wieder zurück. HE. F. schüttelte den Kopf zu allen diesen Muthmasungen u. gab zu verstehn daß ihm die Sache unheimlich vorkomme. Wir eilten nun den Louis zu holen, er sollte unter einem Vorwand, damit kein unnöthiges Aufsehn entstehe, den Koch um seinen Zimmerschlüssel bitten u. uns mit einer Laterne an Ort u. Stelle begleiten. Dieß geschah; auch Clärchen warf ein Halstuch über den Kopf und ging mit. Der Bruder L. in sichtbarlicher Aufregung schnaufend, rannte so eifrig den Garten hindurch und alle die vielen Treppen hinauf daß wir ihm kaum folgen konnten. Jetzt stand man vor der spuckhaften Thüre. Man hörte keinen Laut von innen; Todtenstille in dem ganzen Schloß. Louis öffnete rasch, mit Geräusch u. ich war in dem Augenblick darauf gefaßt, ja hatte innerlich den Wunsch, irgend etwas Auffallendes zu erleben. Allein was wars? Ein ordinäres Talglicht brannte, vergessen, mit einem langen Putzen ruhig auf dem Tisch.

Seit dem 6. September 1850 hielten sich Mörike mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und zunächst auch mit Margarethe Speeth (später verheiratete Mörike; 1818-1903) im bei Regensburg gelegenen Pürkelgut auf. In dem 1844 vom fürstlichen Haus von Thurn und Taxis erworbenen Gut, bestehend aus in einem geschlossenen Rechteck angeordneten Ökonomie- und Wirtschaftsgebäuden, war Mörikes Bruder Ludwig (gen. Louis; 1811-1886) seit dem 1. Januar 1848 Ökonomieverwalter. Auf der südlichen Seite des Guts befindet sich das mit einem See umgebene barocke Wasserschloß, zu dem ein aufgeschütteter Damm führte. Mörike und seine Schwester kehrten am 26. Dezember vom Pürkelgut nach Mergentheim zurück; Margarethe Speeth war bereits am 13. Oktober dorthin zurückgekehrt. Der kurz nach dem 22. Oktober 1850 an sie geschriebene Brief enthält auch vorliegendes Musterkärtchen, in dem eine Begebenheit geschildert wird, die sich nach der Rückkehr eines Besuchs von Mörike, seiner Schwester Klara, seinem Bruder Ludwig sowie dessen Frau Franziska im nahen Regensburg abgespielt hat. Sie wurden außerdem begleitet von Johannes Fischer, dem Hauslehrer von Ludwig Mörikes Söhnen Herman Friedrich Adolf, August Konstantin und Eduard. – Der darin genannte Herr Koch war damals offensichtlich ein auf dem Pükelgut arbeitender Praktikant. – »Putzen« (eigentlich »Butz« bzw. »Butze«) steht hier für die damals noch geläufige Bezeichnung von »verbrannter Docht an der Kerze«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 345.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2020

Musterkärtlein zum Gruß.

Es roch etwas sonderbar, so À LA Patschuli im Zimmer. Da sagte die Kleine, gleich ihr Näschen rümpfend: »Was riecht denn da so affektirt?«

Mörikes wohnten im zweiten Stock des Hauses Militärstraße 51 von Anfang September 1859 bis Ende April 1864. Das dreistöckige Haus, das der Weingärtner Wilhelm Bofinger errichtet hatte, gehörte zum Zeitpunkt der Entstehung der vorliegenden Zeilen – eine Nachschrift zu einem Brief von Margarethe Mörike an Klara Mörike vom 3. September 1861 – dem Konditor Friedrich Frick. Mörikes hatten die im zweiten Stock gelegene Wohnung mit vier Zimmern und Küche gemietet. In welchem Zimmer sich die hier geschilderte Szene mit der »Kleinen«, der fast viereinhalbjährigen Marie Mörike (1857-1876), abspielte, ist nicht bekannt. – Patschuli« (Pogostemon) ist eine Pflanzengattung in der Familie der Lippenblütengewächse (Lamiaceae). Ihre bekanntesten Vertreter sind das Indische und das Javanische Patschuli, die zur Erzeugung des bekannten Patschuliduftes dienen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 154.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2020

Gestern [Namenszeichen für Eduard Mörike] zum Marile: »Wem gehört Sie? Doch mir?« - Nein, - Wem denn? – Dem Hev Dot und Dir.
Heute früh ohne Anlaß, in übler Laune: »Du bist bös, Papa; und der Hev Dot au, und Tante au und i bin au bös.«

Mörikes Mitteilungen an Wilhelm Hartlaub (1804-1885), die er als Nachschrift zu einem Brief seiner Schwester Klara an Familie Hartlaub vom 20. August 1859 sandte, fügte er das hier zitierte Musterkärtchen an. Geschildert wird darin ein Dialog mit seiner Tochter Marie (1857-1876). Sie war zur Zeit der Entstehung des Briefs zweieinhalb Jahre alt. Die Rede ist dabei von Mörike, von Maries Taufpaten Wilhelm Hartlaub (der vom 15. bis zum 18. August zu Besuch bei Mörike in Stuttgart weilte) und von Mörikes Schwester Klara (1816-1903), die ebenfalls Patin von Marie Mörike war. – »Hev« steht wohl in der Kindersprache für »Herr«, »Dot« steht im Schwäbischen für »Taufpate«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 76.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2020

Musterkärtlein für mein liebes Clärchen.

Aus einer alten gedruckten Denkschrift in Quart mit Umschlag von Silber-BlumenPapier : Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Sr. herzogl. Durchl. des HE. pp Herzog Carls nach höchstDero beglückten Zurückkunft aus Italien in Dero herzogl. Residenz LUDWIGSBURG, den 11 Juli 1767 [...] S. 27. - - Als es HöchstDenenselben gnädigst gefiele, den Wagen vor der Ehrenpforte* halten zu lassen, so umringeten Sie die Kinder, welche zugleich den Weg vor und nach dem Wagen mit ihren Blumen bestreuet, voll Ehrforcht und kindlich wallender Freude, und stelleten Sr. Herzl. Durchl. das Bild der getreuesten Nachkommenschaft im Kleinen auf eine rührende Weise vor Augen. Eine Enckelin des Herzogl. Raths und Leib-MEDICI, HE. DR. Breyers, Louisa Friedericka MÖRIQUIN, Tochter des HE. D. MED. u. Stadt-PHYSICI Möriqué genoße der höchsten Ehre, Sr. Herz. Durchl. das unterthänigste Glückwünschungsgedicht auf einer silbernen Platte, mit beigesetzten wenigen Worten demüthigst zu überreichen, und Se Herzogl. Durchl. nahmen es nicht nur mit gnädigsten Händen an, sondern bezeugten auch über die ganze Anstalt, so besonders über den Aufzug und lebhaften Eifer dieser Kleinen Dero höchstes Wohlgefallen in allen Blicken und mit huldreichsten Worten. […]

Klara Mörike (1816-1903), an die vorliegendes, nach dem 2. Juli 1853 in Stuttgart entstandenes Schreiben gerichtet war, hielt sich damals seit dem 18. Juni in Mergentheim bei Mörikes Schwiegermutter Josephine Speeth geb. Schaupp verw. Gavirati (1790-1860) auf. In dem Brief teilt Mörike seiner Schwester mehrere Musterkärtchen mit. Der vollständige Titel der bei »Christoph Friederich Cotta, Hof- und Canzley-Buchdrucker« in Ludwigsburg erschienenen »alten gedruckten Denkschrift«, aus der Mörike einige dieser Musterkärtchen zitiert, lautet: »Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Seiner Herzoglichen Durchlaucht, des regierenden Herrn Herzog Carls zu Würtemberg und Töckh etc. nach Höchst Dero beglückten Zurückkunfft aus Italien in Dero Herzogl. Residenz und dritten Haupt-Stadt Ludwigsburg den 11ten Julii 1767. nebst denen auf solche höchsterfreuliche Begebenheit angestellten so wohl allgemeinen als besondern Ehren- und Freuden-Bezeugungen. Mit Herzoglich gnädigster Genehmigung«. Die »Ehren- und Freuden-Bezeugungen«, aus denen hier zitiert wird, hielten der Ludwigsburger Oberamtmann und Regierungsrat Christoph Ludwig Kerner (1744-1799), der 1766 ins Amt gekommen war, und der Dekan (auch »Spezialsuperintendant« genannte) Georg Sebastian Zilling (geb. 1725; seit 1767 im Amt). Sie begrüßten Karl Eugen Herzog von Württemberg (1728-1793) bei der Ankunft in Ludwigsburg vor dem »Stuttgarter Tor«, eines der vier Haupttore an der Südseite der Stadt. – Gemäß einer Aufzeichnung in seinem Kalender für 1854, GSA, verlieh Mörike das heute nicht mehr nachweisbare Exemplar der oben zitierten Schrift »Beschreibung des …«, das sich in seinem Besitz befand, in jenem Jahr 1853 an Justinus Kerner (1786-1862), den Sohn von Christoph Ludwig Kerner.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1851-1856. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 152-153.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juni 2020

Musterkärtchen.

[…] FANNY: (verklagend) »Das Mariele putzt allemal den Mund und d. Hand ab, wenn ihr die Großmutter einen Kuß gibt, u. das ist eine rechte Sünd, da thu i nie!«

Dem Brief an Wilhelm Hartlaub, den Mörike zusammen mit seiner Frau Margarethe am 2. Juni 1860 in Stuttgart (sie wohnten damals in der Militärstraße 51) schreibt, fügt er drei Musterkärtchen an, von denen hier das mittlere wiedergegeben ist. Es berichtet von einer Szene mit Mörikes Tochter Franziska (gen. Fanny; 1855-1930). Sie war wenige Wochen zuvor, am 12. April, fünf Jahre alt geworden. Ihre Schwester Marie (1857-1876), über die sie darin spricht, war damals drei Jahre und vier Monate alt. Bei der erwähnten Großmutter handelt es sich um Josephine Speeth geb. Schaupp verw. Gavirati (1790-1860), die Mutter von Mörikes Frau Margarethe. Sie war bereits 1859 in die Stuttgarter Militärstraße 41 gezogen und wohnte damit nur einige Häuser entfernt von Mörikes. Da sie in Folge eines schon 1858 erlittenen Schlaganfalls seit Anfang 1860 ständige Hilfe benötigte, nahm sie häufig an Mörikes Familienleben teil; sie zog endgültig am 25. Juli bei der Familie ein.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 109.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Mai 2020

Kuriosum.

Am 22. May, Abends, saß ich im Dahinfelder Wald, nicht weit vom Eingang, unter einer hohen Eich und las ein Zeitlang in der Bibel (es war meiner lieben Mutter ihre). Ganz nah bei mir schlug eine Nachtigall. Ich machte das Buch endlich zu, hing meinen eigenen Betrachtungen nach und hörte dazwischen auf den Gesang der Vögel. Die Nachtigall wiederholte einigemal jene schöne Stufenreihge gezogener Töne welche allmählich mit Gewalt anwachsend aus der Tiefe in die Höhe gehen und mit einer Art von Schnörkel oder Sprützer schließen. Dabei fiel mir von ungefehr ein komisches Gleichniß ein, u. während des Heimgehns war ich, ganz im Gegensatz zu dem was mich jezt einzig beschäftigen sollte, durch den Geist des Widerspruchs genöthigt, den Gedanken in ein paar Strophen auszubilden, indem mir unaufhörlich das Alcäische Versmaas in den Ohren summte. Die erste Strophe hat sich sozusagen von selbst, ohne mein Zuthun zusammengefügt. Das Komische liegt theils in der poetischen Anwendung einer an sich treffenden, jedoch prosaischen Vergleichung, theils im Contrast der feierlichen Versart. […].

An Philomele.

Tonleiterartig steiget dein Klaggesang
Vollschwellend auf, wie wenn man Bouteillen füllt:
Es steigt und steigt im Hals der Flasche
Sieh, und das lieblich Naß schäumt über.

- O Sängerin, dir möcht‘ ich ein Liedchen weihn,
Voll Lieb‘ und Sehnsucht! aber ich stocke schon.
Ach mein unselig Gleichni? regt mir
Plötzlich den Durst, und mein Gaumen lechzet.

Vergib! Im Jägerschlößchen ist frisches Bier
Und Kegel-Abend heut‘; ich versprach es halb
Dem OberAmtsGerichtsVerweser,
Auch dem Notar und dem Oberförster.

Mörike setzte das hier wiedergegebene »Kuriosum« an das Ende seines Briefs an Wilhelm Hartlaub, den er in Cleversulzbach zwischen dem 4. und 23. Juni 1841 geschrieben hat. Mit dem darin erwähnten »Dahinfelder Wald« ist der westlich von Cleversulzbach auf halbem Weg nach Dahenfeld gelegene »Dahenfelder Schlag« gemeint. Die Bibel seiner Mutter Charlotte Mörike geb. Beyer (1771-1841), die er bei sich hatte, ist 1773 in Reutlingen gedruckt worden. Sie hat sich erhalten (SNM). Auf der Rückseite des hinteren Vorsatzblattes hat Mörike mit Bleistift eingetragen: »1841. D. 22. MAI, Abends 6 Uhr am Eingang des Dahenfelder Walds. Eine Nachtigall schlägt in meiner Nähe. Spr. Sal. 18.14.« Die von Mörike notierte Bibelstelle lautet: »wer ein fröhliches Herz hat, der weiß sich in seinen Leiden zu halten; wenn aber der Muth liegt, wer kann es tragen?« Erhalten hat sich aus Mörikes Nachlaß außerdem ein Blatt (SNM), auf dem eine fremde Hand lautmalerisch den Nachtigallenschlag nachzuahmen versucht; Mörike hat es überschrieben »CANTUS LUSCINAE IN SILVIS CLEVERSULZBACCENSIBUS« (lat. für: Gesang der Nachtigall in Cleversulzbacher Wäldern). – Die alkäische Strophe ist eine nach dem griechischen Dichter Alkaios benannte antike Strophenform, die in der deutschen Dichtung häufig nachgebildet worden ist. Es handelt sich um eine vierzeilige Odenstrophe, deren ersten beiden Verse 11, der dritte 9 und der vierte 10 Silben haben, wobei die ersten beiden Verse eine Zäsur nach der fünften Silbe haben. – »Philomele« ist eine griechische Sagengestalt, die in eine Nachtigall verwandelt wurde.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 183-184.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2020

Musterkärtchen
für die lieben Wimsheimer Freunde.

[…] 9. kommt Frau Strauß. Einige widerliche Züge: z.B. mitten im Gespräch, als wenn ihr plötzl. was einfiele: »Blitz, ich hab Ihnen ja da auch ein halb Duzend Karten mitgebracht!« (zu ihren unglückl. Vorlesungen nemlich, deren Thema schon ein höchst verkehrtes und zweckloses ist; namentl. war ich auch mit ihrer Auswahl der Poesieen gar nicht einverstanden. Sie bringt mir jedesmal ihr Manuscr., es ist ihr aber nicht gut rathen. Gehört hab ich noch keinen ihrer Vorträge, sie werden überhaupt fast nur von ihren Bekannten mit Freibilleten besucht.)

Im vorliegenden, zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 geschriebenen Brief teilt Mörike der Familie Hartlaub ausschließlich Musterkärtchen mit; sie berichten von Ereignissen, die sich zwischen Dezember 1864 und dem 26. März 1865 zugetragen haben müssen. Die eng befreundete Familie lebte zu jener Zeit allerdings schon lange nicht mehr in Wimsheim: die Hartlaubs verzogen bereits am 10. November 1863 (!) nach Stöckenburg bei Schwäbisch Hall (die Pfarrei Stöckenburg gehörte damals zu Vellberg); Wilhelm Hartlaub vermerkte dies unter Mörikes Anrede »Wimsheimer« mit dem Wort »Stöckenb.« – Das hier wiedergegebene unter dem 9. Dezember [1864] notierte Musterkärtchen berichtet über einen Besuch von Agnese Strauß geb. Schebest (1813-1870) bei Mörikes, die damals in Stuttgart in der Kanzleistraße 8 (heute: Kleiner Schloßplatz) wohnten. Agnese Strauß, die sich bereits im Herbst 1847 von ihrem Mann, David Friedrich Strauß, getrennt hatte und in Struttgart lebte, hielt zu jener Zeit Vorträge über Rezitation und hatte Mörike bei der Niederschrift ihres Manuskripts Mörike um Rat gefragt.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 73.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2020

Ist von wichtigen Geschichten
Eben nicht viel zu berichten
Tunkt man doch die Feder ein;
Sollt‘ es auch von Lust und Scherzen
Unter drei zufriednen Herzen
Nur ein Musterkärtchen seyn.

Agnes: Der Klar kann auch schon recht nett singen.
Ich: (in Gedanken) Ja, er wird einen guten Baß bekommen.
Agnes: Einen sehr guten Baß.

Das hier zitierte Gedicht steht als Einleitung zu mehreren Musterkärtchen, die Mörike in einem Brief vom 21. März 1842 an seinen engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) mitgeteilt hat. Die Tochter des Freundes, Agnes Hartlaub (1834-1878), war damals vom 21. Februar bis zum 8. Mai ohne die Eltern zu Besuch in Cleversulzbach. Wie aus einem Brief von Agnes Hartlaub an ihren Vater Wilhelm vom 20. März 1842 hervorgeht, wurde innerhalb der Familie ihre Schwester Klara (1838-1903) »Klar« genannt.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 28 u. 30.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2020

Musterkärtchen vom Abend vor Neujahr.

Fanny, mit der neuesten Zeitung in der Hand ruft voll Feuer
Höret! etwas Wichtigs: Die Schleswig-Holsteiner sind in die Glückstadt eingezogen!
(Sie hatte nach ihrer hudligen Art ein Telegramm vom Einzug des Herzogs falsch gelesen. Unter der Glücksst. muß sie sich wirklich URBEM FAUSTAM & FELICEM vorgestellt haben u. damit das ganze Spiel als gewonnen. Liebe Kinderchens! würde der Wrangel da sagen.)

In dem in Stuttgart geschriebenen Brief vom 5. Februar 1864 an Familie Hartlaub – Mörikes engster Freund Wilhelm (1804-1885) war verheiratet mit Konstanze geb. Kretschmer (1811-1888); sie hatten drei Kinder: Agnes (1834-1878), Klara (1838-1903) und Marie (1843-1917) – schildert Mörike unter anderem die im obigen Musterkärtchen wiedergegebene Szene mit seiner Tochter Franziska (gen. Fanny; 1855-1930). Sie las ihrem Vater aus dem »Schwäbischer Merkur« vor. Die Zeitung war 1785 von Christian Gottfried Elben gegründet worden. Sie war lange Zeit die wichtigste politische Tageszeitung Württembergs. Der »Schwäbische Merkur« vom 1. Januar 1864 (diese Ausgabe erschien offensichtlich schon am Abend zuvor) brachte folgende Eilmeldung unter der Rubrik »Telegramme«: »Aus Holstein den 30. Dez., Abends. Herzog Friedrich VIII. von Schleswig-Holstein ist heute allein in Glückstadt gelandet; gegenwärtig befindet er sich in Kiel.« und »Hamburg den 30. Dez., Nachts. Herzog Friedrich [Herzog Friedrich VIII. von Schleswig-Holstein (1829-1880)] reiste heute über Harburg mit einem Dampfboot nach Glückstadt, von da mit Extrazug nach Kiel«. – Die lateinischen Worte »URBEM FAUSTAM & FELICEM« lauten ins Deutsche übersetzt: »eine Glück bringende, vom Glück begünstigte Stadt«. – Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel (1784-1877), preußischer Generalfeldmarschall, hatte 1848 die deutschen Truppen gegen Dänemark geführt und im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 wieder den Oberbefehl erhalten.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 19.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2020

[... etwas von ihm zu Euch gelange]

Agnes fragte beim Nachtessen, da sie den Nachtwächter blasen hörte: ob ein Nachtwächter ein Mensch sey? Weil man ihr nehmlich gesagt: er habe ein Horn, so hielt sie ihn für eine Art brüllenden Ochsen.

Zur Zeit der Entstehung des vorliegenden Musterkärtchens, das Mörike in einem Brief an Konstanze Hartlaub nach dem 21. Januar und vor dem 8. Februar 1840 mitteilt, lebte Agnes Hartlaub (1834-1878), Tochter des engen Freundes Wilhelm Hartlaub (1804-1885), damals für ein halbes Jahr – vom August 1839 bis zum Februar 1840 – bei Mörike in Cleversulzbach. Der Brief wurde nicht von Mörike selbst, sondern von seiner Schwester Klara nach Diktat des Bruders geschrieben. – Zur typischen Ausrüstung eines Nachtwächters gehörten eine Hellebarde oder eine ähnliche Stangenwaffe, eine Laterne und ein Horn. Mit letzterem warnte er die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben und kündigte oft auch die Stunden an.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 84.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2019

... wir einander MUSTERKÄRTCHEN schicken ...
Hier gleich ein paar zur Probe.
[…]

Ich ging neulich des Morgens bei sehr schöner Sonne am Bach hinunter spazieren. Man sieht durchs Erlengebüsch über Wiesen hinweg auf die nahe CHAUSSEE, mit der man lang in gleicher Linie bleibt. Auf einmnal vernehme ich Mädchengesang, mehrere Stimmen, von Neuenstadt her und ich bleibe stehen. Es dauert kurze Zeit so kommen ihrer drei hinter dem Vorsprung eines Hohlwegs herum. Die Eine, die Schlankste des Kleeblatts, sie lief in der Mitte, sang ganz besonders klar u. keck im rüstigen Daherschreiten, die andern wenigstens nicht falsch. Die Melodie schön, eigenthümlich, was man nur sagen kann! Vom Text verstand ich nur von Zeit zu Zeit etwas. Endlich hörten sie auf. Im Heimgehn sann ich nach, wie ich am schicklichsten den TEXT bekommen könnte und sieh, in weniger als zehn Minuten hatt ich ihn. Ich kam durch meinen Garten & fand die Tochter unsers Taglöhners, darin mit Schoren beschäftigt. »Hanne! Kann Sie nicht ein Lied, es kommen die und die Worte drin vor.« Sie besann sich ein wenig. Ja wohl kann ichs, Herr Pfarr. So sag Sies her! Nur ohne Umstände!
[es folgt Mörikes Gedicht »Wir Schwestern zwei, wir schönen …« (Die Schwestern)]
[…] Nun ist mein Brief doch noch so ziemlich ansehnlich geworden u. eine wahre MusterKarte. (Doch – PER PARENTHESIN – das Liedchen vorhin ist von mir: ich wollte nur daß Dus mit unbefangnen Augen lesest u. mir sagst, obs für ein Volkslied gelten kann? Es ist neulich morgens im Bett unmittelbar nach dem Erwachen gleichsam aus dem Stegreif entstanden u. war in weniger als 8 Minuten beisammen.)

Die in vorliegendem Musterkärtchen beschriebene Begebenheit, die Mörike in einem Brief an Friedrich Theodor Vischer (Cleversulzbach, 13. Dezember 1837) schildert, hatte er schon einen Monat zuvor – am 7. November – seinem engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) mitgeteilt. Der »Bach«, der durch Cleversulzbach fließende Sulzbach, an dem Mörike spazieren ging, mündet vor Neuenstadt/Kocher in die Brettach. Westlich des Sulzbachs führt die erwähnte »Chaussee« von Mörikes Pfarrdorf nach Neuenstadt am Kocher (früher Neuenstadt an der Linde, ein eine halbe Fußstunde von Cleversulzbach entfernt gelegenes Städtchen mit damals ca 1380 Einwohnern und eigenem Dekanat). – Der stattliche Pfarrgarten liegt zwischen der Rückseite des Pfarrhauses und dem Friedhof; eine Lithographie des Pfarrhauses und des Gartens (betitelt: »Letzte Wohnung von Schiller’s Mutter in Cleversulzbach bei Neckarsulm«) wurde von Mörike koloriert (SNM). – Taglöhner bei Mörike war damals der Weber Johann Christian Bort (1795-1851), der zwei Töchter hatte: Johanna Christina (1820-1893) und Johanna Regina (geb. 1822). Welche der beiden Töchter bei Mörike den Garten umgegraben hat, ist nicht bekannt. – Das lat.-griech. »PER PARENTHESIN« steht für »beiläufig gesagt«. – Mörikes Gedicht »Wir Schwestern zwei, wir schönen …« (Die Schwestern) ist kurz vor dem 7. November 1837 entstanden (Erstdruck in: Mörike, Gedichte, Stuttgart: Cotta 1838, S. 79).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 12. Briefe 1833-1838. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 148-150.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2019

Musterkärtchen u. Lesefrüchte.
[…]

DOMESTICUM.
Gespräch. Abends mit Clärchen im Auf u. Abgehn

E. Wenn ich nun bald heirathen würde, müßt‘ ich denn das allen Verwandten besonders notificiren?
C. Ich glaube so.
E. Und allen Freunden auch?
C. Da soll es Einer, dem Du schreibst, dem andern sagen; sie sind doch meist in Stuttgart. Übrigens kannst Dus in der Zeitung thun.
E. In diesem Falle mach ich einen Beisatz: »Wer mir zur Hochzeit schenken wollte, beliebe die Artikel aus der LETHÄA GEOGNOSTICA zu wählen, denn das ist jetzt mein CapitalWesen! Insonderheit würde bei gegenwärtiger Veranlassung ein versteinertes Kind, wie man sie neuerdings bei Stetten, OberAmt Gerabronn, zuweilen findet, nicht unschicklich seyn.«
C. Gräuliches Zeug!

Vorliegendes Musterkärtchen ist Teil eines am 18. November 1844 in Mergentheim an den engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) geschriebenen Briefs. Mörike und seine Schwester Klara (1816-1903) hatten wenige Wochen zuvor in der Mergentheimer Mühlwehrgasse 140 bei dem Ökonomen Nikolaus Fuchs (1780-1855) eine Wohnung gemietet und waren am 1. November 1844 eingezogen. Dort, wie Mörike mit dem lateinischen Wort »DOMESTICUM« (für: »Häusliches«, »zur Familie Gehöriges«) belegt, hat sich vorliegende Begebenheit abgespielt. – In Stuttgart, Residenz- und Hauptstadt des Königreichs Württemberg mit damals ca 30.000 Einwohnern, lebten zu jener Zeit unter anderem Mörikes Freunde und Bekannte Ludwig Bauer (1803-1846), Johannes Mährlen (1803-1871), Hermann Hardegg (1806-1853), Emilie Zumsteeg (1796-1857) und Hermann Kurz (1813-1873). In seiner Antwort (vom 22. November 1844) auf vorliegendes Schreiben ging Hartlaub auch auf Mörikes Scherz einer geplanten Verheiratung ein und machte ihn darauf aufmerksam, »zuallererst die Erlaubniß eines Königlich Hochpreislichen [Konsistoriums] einzuholen«. – Mörike beschäftigte sich, nachdem er nach Mergentheim gezogen war, weiter häufig mit dem Sammeln von Versteinerungen. Mit dem Begriff »LETHÄA GEOGNOSTICA« (lat. für: »die zur Unterwelt gehörende Erdschichtenkunde«) spielt er auf diese Beschäftigung an. Der von Mörike erwähnte Ort »Stetten« steht wahrscheinlich für Niederstetten, eine in der Nachbarschaft von Hartlaubs Wohnort Wermutshausen gelegene Gemeinde mit etwa 1600 Einwohnern; sie gehörte zum Oberamt Gerabronn im Jagstkreis.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 188.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2019

MUSTERKÄRTCHEN
[...]

Nun brach man auf u. fand die Andern in der Glocke an dem bekannten (!) EckTisch wo eben das Fenster-Rouleau herabgelassen und auf dem hohen Messingleuchter ein Licht aufgestellt wurde. Erstaunliche, höchst eifrige Berichte der 3 Buben vom »MONSTRE-Elephant« des MONSIEUR TOURNIÈRE, ISABELLA genannt, 72 Jahr alt – LOUIS macht seine Bemerkungen darüber, legt frische Würste auf, Franz zeigt gekaufte Wolle, Herr Fischer truzt ein paar Minuten bis eins merkt, daß er von der feineren Sorte der THAMMERischen Gaben noch nichts auf seinem Teller hat.

Seit dem 6. September 1850 hielten sich Mörike mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und zunächst auch mit Margarethe Speeth (später verheiratete Mörike; 1818-1903) im bei Regensburg gelegenen Pürkelgut auf. In dem 1844 vom fürstlichen Haus von Thurn und Taxis erworbenen Gut war Mörikes Bruder Ludwig (gen. Louis; 1811-1886) seit dem 1. Januar 1848 Ökonomieverwalter. Mörike und seine Schwester kehrten am 26. Dezember von dort zurück, Margarethe Speeth war bereits am 13. Oktober wieder nach Mergentheim gefahren. Der kurz nach dem 22. Oktober 1850 an sie geschriebene Brief enthält auch vorliegendes Musterkärtchen. Es berichtet von einem Besuch Regensburgs, den Mörike und seine Schwester zusammen mit seinem Bruder Ludwig, dessen Frau Franziska gen. Franz (geb. Gräfin von Normann-Ehrenfels gesch. von Bloß; 1811-1866) und dessen Söhnen Hermann (1840-1896), August (1842-1920) und Eduard (1843-1904) unternahm; sie wurden dabei begleitet von Johannes Fischer, einem jungen Theologen, der damals als Hauslehrer der drei Söhne Ludwig Mörikes angestellt war. Das Gasthaus »Glocke«, in der sich die Gesellschaft traf, befand sich in der Glockengasse (heute Haus Nr. 10). Zu dem Elefant, der im Innenhof des Bischofshofs am Markt (heute Kräutermarkt 3) gezeigt wurde und von dem die »Buben« berichteten, heißt es im »Regensburger Tagblatt« vom 27. Oktober 1850: »Der schwarze Monster-Elephant 74 J. alt 12 Fuß hoch und 8600 Pfd schwer, Eigenthum des Louis Tourniaire Schauplatz: im Bischoffshof am Markt 10. Nov. letzte Vorstellung«. – Um wen es sich bei der Person »Thammer« handelt, ist nicht bekannt.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 344.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2019

Musterkärtchen des Monats
September 2019

Ein »artliches« Curiosum […] Es ist Ihnen wohl auch wie mir schon hundertmal passirt, daß während Sie ein Wort, zumal ein seltener vorkommendes, für Sich lasen oder dachten, im selben Augenblick dasselbe Wort ganz zufällig von Jemand Anderem in Ihrer Nähe ausgesprochen wurde, was alsdann immerhin etwas Frappantes hat. Auffallender geschah mir dieß niemals als neulich, da ich auf meinem Zimmer Fischers Bemerkung über Ihr »gleich Sonnen sprühendes Mückenheer« las und in dem nemlichen Moment meine jüngste Tochter, in der Kammer neben mit sich selbst schwätzend, den Ausdruck Sonnenmucken brauchte. – Das Wort an u. für sich erklärt sich übrigens aus einem Spaß den ich vor etwa einem Vierteljahr den Kindern einigemal machte. Ich legte meine Hand so auf den Fenstersims daß die hereinfallende Sonne einen kleinen Diamant an meinem Ring berührte der denn seine runden farbigen Lichter auf die nächste Wandverkleidng warf, woran ich sie beliebig auf und niederlaufen ließ. ich sagte nicht woher die Dinger kommen, sie wurden als lebende Wesen betrachtet und Sonnenmucken genannt. Das fiel also dem Mädchen wieder ein und wir könnten ein KinderOrakel zu Gunsten Ihres angefochtenen Gleichnisses darin finden.

Das hier zitierte Musterkärtchen fügte Mörike seinem auf den 14. September 1859 datierten Brief an Karl Friedrich Hartmann Mayer (1786-1870) an, den er seit 1841 bei der Redaktion seiner Gedichte beriet. Zur Zeit der Entsehung des vorliegenden Briefs hatte Mörike begonnen, zusammen mit dem befreundeten Schriftsteller Johann Georg Fischer (1816-1897), der damals der Stuttgarter Elementarschule vorstand, Mayers umfangreiche Gedichtsammlung kritisch durchzusehen. Dieser hatte zu den Versen »Und der Mücken Heer gleich Sonnen Leuchtend ob der Tiefe sprüht!« in Mayers Gedicht »Sonnenuntergang« (vgl. Lieder, Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1833, S. 199) notiert: »ist mir physikalisch und ästhetisch bedenklich«. – Mörike war damals mit seiner Familie erst kurz zuvor – Anfang September – in die Stuttgarter Militärstraße 51 eingezogen. In der Wohnung mit vier Zimmern und der Küche lag Mörikes Zimmer neben der »Kammer«, die von seiner Schwester Klara (1816-1903) und den Kindern Franziska (gen. Fanny; 1855-1930) und Marie (1857-1876) genutzt wurde.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857.1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 81-82.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2019

Musterkärtchen
von den letzten Tagen für meine liebe Gretilla
und mein Kleinselein

[…] D. 10. Nach Tisch mit Clara u. Fanny auf die Eisenbahn nach Feuerbach. Der Pfarrer kam uns, den Arm in einer Schlinge tragend, entgegen: er fiel bei der Heimkehr von seinem neulichen Stuttgarter Besuch, nach dem Aussteigen aus dem Wagen über eine Schiene und verwundete sich nicht unbedeutend. Er war etwas stiller als sonst. Die Payerin meint, er habe es gar nicht gern gehört, daß seine Bauern sagten: Jetzt wird doch der Herr Pfarrer selber merken, daß er anfangen alt ist.

Margarethe und Marie Mörike hielten sich am 14. August 1865, dem Datum des Briefes, aus dem hier zitiert wird, bei Marie Hibschenberger (Margarethe Mörikes einstiger Schulfreundin) in Adelsheim auf (vom 26. Juli bis zum 22. August). Das vorliegende Musterkärtchen ist der erste Teil des fünften von neun Musterkärtchen, die zwischen dem 6. und dem 14. August entstanden sind und als Brief nach Adelsheim gingen. Mörike wohnte damals mit seiner Frau Margarethe geb. Speeth (1818-1903; hier mit dem Kosenamen »Gretilla« erwähnt), seinen Töchtern Franziska (1855-1930; genannt »Fanny«) und Marie (1857-1876; hier als »Kleinselein«, dem schwäbischen Kosewort für »das kleinste Kind«, bezeichnet) sowie seiner Schwester Klara (1816-1903) in Stuttgart. – Die Zugverbindung nach Feuerbach, ein nördlich von Stuttgart an der Bahnlinie nach Ludwigsburg gelegenes Pfarrdorf mit etwa 4000 Einwohnern bestand bereits seit dem 15. September 1846. In Feuerbach amtierte als Pfarrer seit 1821 Karl Planck (1793-1872), ein Sohn von Mörikes Nürtinger Onkel Gottlob Friedrich Planck. Er war seit Mai 1864 Witwer, wurde 1866 pensioniert und zog 1868 nach Stuttgart. – Friederike (Ricke) Payer geb. Planck (1795-1873), die damals offensichtlich zu Besuch bei ihrem Bruder Karl Planck weilte, lebte in Ohnenhausen bei Reutlingen.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 97.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2019

[Musterkärtchen]

Den Brief an Rickele Cranz hat Lottchen noch selbst hingetragen; in diesem Augenblick kommt sie zurück, ganz alterirt von dem Empfang der alten Hexe, die allein zu hause war. Sie maulte recht wie ein gemeines Weib wenn man ihr ihre Äpfel stehlen will.
»Ja i waas scho, der Kutscher hats mündlich ausgricht. Da wird nichts draus; mein Mann erlaubts nit.«
Lottch: Die Meinung war nur, daß jezt mit der Marktzeit das eigentliche Hinderniß hinweg sey.
Das Ripp: Ja nein. Mei Mann erlaubt jezt nit, und wenns dazu kommen soll und `s gibt später kei G’legenheit, so mache mir selber a Glegenheit. Jezt kanns net seyn.
Lottchen. Mein Bäschen schreibt heut noch zurück. Kann sie vielleicht etwas aus Ihrem Auftrag schreiben?
Ripp. Ja – recht viel Empfehlungen u. wir lassen schön danken.

Mörike, der seit seinem Ausscheiden aus dem Pfarrdienst im September 1843 mit seiner Schwester Klara bei der Familie seines engen Freundes Wilhelm Hartlaub (1804-1885) in Wermutshausen bei Mergentheim gelebt hatte, war am 14. April 1844 nach Hall umgezogen. Dort lebte auch eine Kusine von Wilhelm Hartlaubs Frau Konstanze, Friederike („Rickele“) Cranz (1816-1865). Letztere wollte Konstanze Hartlaubs Bruder Heinrich Kretschmer heiraten. Ihre Eltern – Anna Marie Cranz (geb. Gräter, verw. Löchner (1780-1863), die hier als Hexe bezeichnet wird, und Ludwig Heinrich Sigmund Cranz (1784-1853) – wollten jedoch zunächst diese Verbindung verhindern (die Heirat kam später doch noch zustande). – Im vorliegenden Brief, der auf den 28. Juli 1844 datiert ist, bedankt sich Mörike zunächst für eine Sendung aus Wermutshausen, die unter anderem einen Pack Weißzeug enthielt. Mitgeschickt hatten Hartlaubs offensichtlich auch (den nicht nachweisbaren) Brief an Friederike Cranz, der vielleicht auch Nachrichten von Heinrich Kretschmer enthielt. Er sollte von Charlotte (gen. Lotte) Krehl (1816-1868), eine Nürtinger Verwandten Mörikes, die seit dem 1. Juli zu Besuch in Hall war, der Adressatin übergeben werden. Auf dieses Ereignis wird im vorliegenden Musterkärtchen eingegangen. Es ist teilweise in Hohenloher Mundart geschrieben und könnte das Angebot eines Treffens zwischen Friederike Cranz und Heinrich Kretschmer enthalten haben. Da die Markttage, an denen Friederike Cranz wohl dem Vater helfen mußte, vorbei waren, wäre vermutlich nach Ansicht der Hartlaubs ein solches Treffen möglich gewesen. – Mit »Ripp«, einem mundartlichen Ausdruck für »böses, keifiges Weib«, wird dabei Anna Marie Cranz, die Mutter von Friederike Cranz, bezeichnet. Da Mörikes Schwester Klara (1816-1903) eine Kusine von Charlotte Krehls Mutter war, wird sie hier von Charlotte Krehl als »Bäschen« bezeichnet. Die von Charlotte Krehl erwähnte briefliche Antwort Klara Mörikes an die Familie Hartlaub (»Mein Bäschen schreibt heut noch zurück«) ist nicht nachweisbar.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 167.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juni 2019

[Einschub in einen Brief von Klara Mörike]

Heut Nacht rief mir die Clara durch die Thüre zu, ich soll nachsehen ob die Kleine wohl zugedeckt sey, worauf ich heraus ging und mit der Hand nach ihr fühlte, so sachte wie möglich um sie nicht zu wecken, da sagte der Schelm ganz freundlich, Papa i bin zudeckt!

Da die Handschrift mit den vorliegenden Zeilen auch zwei kurze Notizen Klara Mörikes (1816-1903) enthält, von denen eine als eindeutige Mitteilung zu verstehen ist, werden Mörikes Zeilen sehr wahrscheinlich Teil eines Briefes gewesen sein, den die Geschwister von einem Aufenthalt bei Wilhelm Hartlaub (1804-1885) in Wimsheim an Margarethe Mörike (1818-1903) sandten (die geschilderte Situation, dass Mörike mit seiner Schwester Klara und seiner Tochter Marie nicht am selben Ort wie seine Frau weilte und die von Klara Mörike auf der vorliegenden Handschrift vermerkte Notiz »Mariele, die fröhlich herumspringt« legen diese Vermutung nahe). Deshalb wird das Musterkärtchen ein Einschub in einen Brief von Klara an Margarethe Mörike gewesen sein, der bei dem Aufenthalt der Geschwister in Wimsheim vom 25. Juli bis zum 11. Juli 1859 geschrieben worden ist.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 73.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Mai 2019

Gespräch über inliegendes
Kunstwerk.

Clara zu Ed.[uard] Da hast Du einmal etwas gemacht, um das könnt ich das Gretchen beneiden!
Ed. zum Mariele (die mir wegen der Farben ihren Rath gegeben hatte): Meinst Du, es freu die Mutter?
Marie (mit Nachdruck) Sehr freut sie's!
Ed. Dann freut michs auch.
(Als sie mir hierauf die Farbentäfelchen wieder einräumte:) Ed. Jetzt, weißt Du aber auch, wie man den Carmin zu rothen Backen macht?
Marie. Nein.
Ed. Mit Dreierlei: mit kuhwarmer Milch, mit rothem Wein und Fleischextrakt.
Marie (wohl verstehend) O alle Leut b'schreien mi, wie gut i seit ein paar Tag ausseh. 'S Bühlers, s' Hafners, s' Apothekers, die Feil! Wie mich der Conrad neulich am Sonntag so ansah hat er gsagt: So! jezt laß i mirs gfallen!
NB (Diese letztern Versicherungen gehören auch wesentlich zum Geburtstagsgeschenk.)

Das Gespräch zwischen seiner Schwester Klara (1816-1903) und seiner Tochter Marie (1857-1876) teilt Mörike seiner damals in Stuttgart weilenden Frau Margarethe geb. Speeth (1819-1903) in einem Schreiben mit, das vor dem 31. Mai 1868 in Lorch entstanden sein muß. Marie Mörike hatte ihren Vater, der am 20. April nach Stuttgart gekommen war, am 23. April nach Lorch zurück begleitet und blieb dort bis zum 15. Mai. – Bei den von Marie Mörike erwähnten Familien bzw. Personen handelt es sich um Gottlieb Bühler (1802-1884) und seine Frau Euphrosyne geb. Kreeb (1804-1888; Bühler war der Besitzer des Hauses, in dem Mörike in Lorch wohnte), den Lorcher Hafnermeister Georg Groß (1812-1881; Mörike hat ihn mehrfach porträtiert) mit seiner Frau Johanne geb. Linck (1821-1898) und den Sohn eines Lorcher Apothekers, Karl Immanuel Seeger (1818-1897) mit seiner Frau Albertine Luise Elise geb. Hartmann (1823-1893) sowie um die Freu des Forstschützenmeisters Johann Jakob Veil, Maria Barbara Veil geb. Maier (geb. 1826). Der ebenfalls erwähnte Sattler Konrad Bühler (1844-1919) war der Sohn von Mörikes Lorcher Vermieter Gottlieb Bühler.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 19,1. Briefe 1868-1875. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 44-45.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2019

Musterkärtchen
für meine lieben Wimsheimer Freunde

[...] Ich sagte nebenher zu W.[olff] »Dein Mönchsräthsel (NEC ANIMAM p.)
s. Beilage) hab ich noch nicht errathen, – es kann doch nicht der Blitz seyn?« «Nein das ists nicht« versetzte er halblaut, der Andern wegen mit etwas verlegenem Lächeln, wodurch mir freilich gleich ein Licht aufging.

Im vorliegenden, zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 geschriebenen Brief teilt Mörike der Familie Hartlaub ausschließlich Musterkärtchen mit; sie berichten von Ereignissen, die sich zwischen Dezember 1864 und dem 26. März 1865 zugetragen haben müssen. Die eng befreundete Familie lebte zu jener Zeit allerdings schon nicht mehr in Wimsheim: die Hartlaubs verzogen bereits am 10. November 1863 (!) nach Stöckenburg bei Schwäbisch Hall (die Pfarrei Stöckenburg gehörte damals zu Vellberg); Wilhelm Hartlaub vermerkte dies unter Mörikes Anrede »Wimsheimer« mit dem Wort »Stöckenb.«. – Das hier wiedergegebene fünfte der zahlreichen Musterkärtchen berichtet über ein Gespräch, das Mörike während eines Besuchs bei dem befreundeten Rektor des Katharinenstifts, Karl Wolff (1803-1869), am 5. Dezember 1864 führte. Dieser hatte in seinem undatierten (wohl am 1. oder 2. Dezember 1864 geschriebenen) Briefchen an Mörike folgendes »Mönchsräthsel« gestellt: »Nec animam, nec corpus habet, nec petit honores. | Hoc quid sit queris? Clamat dum nascitur illud | Et post clamorem moritur & non sepelitur« (Es hat weder eine Seele noch einen Körper und fordert auch keine Ehren. Was das sei, fragst du? Es schreit, während es geboren wird Und nach seinem Schreien stirbt es & wird nicht begraben). Mörike glaubte, es sei der Blitz gemeint (es war aber der Furz). – Die von Mörike erwähnte Beilage ist nicht nachweisbar.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 72-73.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2019

Agnes (nachdem sie mich aus dem Stegreif ihrer Zuneigung versichert hatte) Du mußt mein Onkel werden und das Clärchen meine Tante!
Ich. (lachend) Ja wie ist aber das zu machen?
Agnes. Erlaubt denn das der KÖNIG nicht? muß man ihn fragen? (Sie stellte sich das Onkelseyn als eine verleihbare Eigenschaft und Würde vor, wie der Oberinspektor Dekansrang hat ohne DEKAN zu seyn.)

Mörike teilt in einem Brief vom 21. März 1842 an seinen engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) in Wermutshausen mehrere Musterkärtchen mit. Sie beschreiben Begebenheiten, die er und seine Schwester Klara (1816-1903) mit Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878) erlebt haben; letztere war damals vom 21. Februar bis zum 8. Mai 1842 im Cleversulzbacher Pfarrhaus zu Besuch. – Wilhelm I. König von Württemberg (1781-1864) regierte das Land seit 1816 und war damit auch Oberhaupt der evangelischen Landeskirche. Nach dem bereits 1811 erlassenen und damals noch gültigen General-Rescript war das »Rang-Reglement« in zehn Klassen geteilt, wobei die neunte Klasse unter anderem Amtsbezeichnungen wie »Stadt-Pfarrer«, »Ober-Helfer« und auch »Ober-Weg-Inspector« und ähnliche Titel umfaßte. – Ein Dekan führte Aufsicht in seinem Kirchenbezirk, der Diözese (sie umfaßte damals ca. 20 Pfarreien).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 30.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2019

Ich zeigte ihr [Antonie Schwerzenbach] in Wolffens Buch in den Anfangsgründen der Baukunst den
»3. Lehrsatz
Ein Fenster muß so breit seyn, daß zwey Personen gemächlich NEBEN EINANDER IN DEMSELBIGEN LIEGEN KÖNNEN.

BEWEIS

DENN MAN PFLEGET SICH ÖFFTERS MIT EINER ANDEREN PERSON AN DAS FENSTER ZU LEGEN UND SICH UM ZU SEHEN.«
worüber wir uns lustig machten.
Eduard Wirst Du Dich auch einmal mit einer anderen Person so in das Fenster legen?
Antonie (lächelnd) Ich weiß nicht. (Sogleich einlenkend, weil ihre Antwort ein zu schnelles Verständniß der Frage verrieth) Mit meiner Schwester Elis' hab ichs schon manchmal gethan.
Eduard. Nun, wenn Du früher oder später mit einer anderen Person einmal so gemächlich in dem Fenster liegst, erinnere Dich doch dankbar des guten Mannes, der diesen angenehmen Lehrsatz aufgestellt hat.
Ant: Ja, das will ich. -

Antonie Schwerzenbach (1838-1877), die aus Zürich stammte, wurde von Mörikes Ende Mai 1854 als Pensionsgast aufgenommen. Sie wohnte bei der Familie bis zum Ende des Jahres 1855. Mörikes hatten sich damals entschlossen, Pensionsgäste aufzunehmen, um die größere Wohnung in der Stuttgarter Alleenstraße 9, in die sie am 4. Mai 1854 eingezogen waren, bezahlen zu können. Der im vorliegenden Musterkärtchen geschilderte Dialog mit ihr findet sich im nach dem 25. Februar 1855 geschriebenen Brief an die eng befreundete Familie Hartlaub. Mörike zitiert darin aus dem ersten Teil der siebten Auflage der »Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften« von Christian Freiherr von Wolff (1679-1754), die 1750 in Frankfurt/M. und Leipzig als »Neue, verbesserte und vermehrte Auflage« veröffentlicht wurde; Wolff bezeichnete den fünften Band dieser Publikation mit dem Titel »Kurtzer Unterricht von den vornehmsten mathematischen Schriften«. – Elise Schwerzenbach (1842-1925), später verheiratete Hirzel, war eine Schwester von Antonie Schwerzenbach.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1851-1856. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 203-204.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2019

[... etwas von ihm zu Euch gelange]

Eduard zeigte ihr [Agnes Hartlaub] die große Sandbüchse vom Karlsberg, und bemerkte, daß er sie vom Vater habe; sie sah sie an, und sagte: nicht wahr, die ist sehr verehrungswürdig?

Das hier zitierte Musterkärtchen hat Mörike, der wegen einer Erkältung nicht selbst schreiben konnte, seiner Schwester Klara (1816-1903) diktiert. Es ist Teil eines Schreibens, das Klara Mörike nach dem 21. Januar und vor dem 8. Februar 1840 an Konstanze Hartlaub (geb. Kretschmer; 1811-1888), der Frau seines engsten Freundes Wilhelm Hartlaub, gesandt hat. Der Text Mörikes wird von seiner Schwester eingeleitet mit den Worten: »Nun will er daß doch auch etwas von ihm zu Euch gelange«. – Mörike, seit 1834 Pfarrer in dem bei Neuenstadt am Kocher gelegenen Dorf Cleversulzbach, lebte im dortigen Pfarrhaus mit seiner Schwester Klara und seiner Mutter Charlotte (geb. Beyer; 1771-1841). Zur Entstehungszeit des vorliegenden Schreibens war Wilhelm Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878) bei Mörikes zu Besuch. Sie hielt sich dort bereits seit Ende August 1839 auf und kehrte erst im Februar 1840 zu ihrer Familie nach Wermutshausen zurück. – Streusand oder Löschsand ist ein feinkörniger Sand, der zum Trocknen schreibnasser Tinte diente. Der Sand wurde in der Sandbüchse (Büchse für Streusand) aufbewahrt. – Das ehemalige Jagdschloß Karlsberg liegt auf einer Anhöhe bei Weikersheim (auf halbem Weg zwischen Mergentheim und Wermutshausen).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 84.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Dezember 2018

… wir einander MUSTERKÄRTCHEN schicken …
Hier gleich ein paar zur Probe.

Mein Vikarius kommt mit dem liederlichen Gassenwirth Korb dahier ins Gespräch über den noch liederlichern hiesigen Gärtner Widmann, einen Erzsäufer. Nachdem besagter Korb dem Letzern verschiedene Prädikate u. Namen ertheilt, die alle ziemlich unanständig waren, mochte ihm einfallen, daß er mit einem Geistlichen rede und daß er deßhalb seinen Ausdrücken eine mehr kirchliche Färbung geben müsse. Ohne allen Sinn & Verstand, ohne irgend eine Beziehung auf ein besonderes Laster schließt er nun seine Schilderung mit den Worten: »Ja, Herr Vikarius, das kann ich Ihnen sagen, der Widmann ist – ist – ein – ein Stifter der Geschlechter!«
(Die lezten Worte, die aus einem bekannten Lied unsres Gesangbuchs sind, wurden ganz mit demselben Nachdruck gesprochen, wie wenn er hätte sagen wollen: »ein KapitalSpitzbub« – oder – »ein Himmelsakerment.«)

Dieses Musterkärtchen ist eines der ersten, die Mörike (mit seinem Brief vom 13. Dezember 1837) an Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) geschickt hat. Vikar bei Mörike in Cleversulzbach war in jenen Tagen Johann Friedrich Schlaich (1810-1866). Schon am 27. Januar 1836 war er zur Unterstützung Mörikes an dessen Gemeinde entsandt worden; er blieb bis Ende 1838 und wurde, nach weiteren Vikariatsjahren an verschiedenen Orten, 1842 Stadtpfarrer in Oberndorf am Neckar. – Schlaich unterhielt sich damals mit dem Weber und Totengräber Georg Friedrich Korb (1776-1848); als Gassenwirt durfte dieser Wein und Bier nur über die Gasse verkaufen; er hielt sich jedoch nicht an die Bestimmung und ließ sogar Musikanten ein. Der Gärtner Georg Friedrich Widmann (geb. 1793), von dem Korb erzählt, ist nach 1843 in die Vereinigten Staaten ausgewandert und dort verschollen. – Bei dem »bekannten Lied« handelt es sich um »Wenn der Stifter der Geschlechter Unsre Lieben zu sich ruft ...« von Gotthold Friedrich Stäudlin (vgl. Württembergisches Gesangbuch, Stuttgart 1824, S. 606-607).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 12. Briefe 1833-1838. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 148.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


November 2018

Musterkärtlein
für meinen lieben Willm.

[...] »Ah der Herr Hofrath! [...]« [...] »Gehn Sie doch noch ein wenig mit mir da rechts nach meinem kleinen Krankenhaus. Wir kommen da an einem guten Brünnchen bei der CHAUSSEE vorüber.« Es geschieht; das Wasser war indessen miserabel. - »Unsere WohlthätigkeitsAnstalt aber bin ich so frei, Ihnen auch bald zu zeigen. Das ist etwas Schöns. Ich führe Sie hin. Ich glaub nicht daß es eine Stadt im ganzen Land gibt, die dergl. etwas aufzuweisen hat« u. s. w. Weiter: von Schönhuth »er war erst vorgestern wieder bei mir.« Von Alterthümern – Schertels Garten, über dessen Mauer er mich blicken ließ – DR Höring ritt vorüber, hielt an, Begrüßungen. Weißflog nimmt Anlaß ihm wegen der MEDICINischen JOURNALE und gestörten Leseordnung als DIRIGENT eine kleine Lektion zu halten. DR. Höring hält aber zwei hübsche Pferde und der OberAmtsRath hat seine beiden haarigen Krabben abgeschafft, »der Frau zu Gefallen, da sie doch immer eine weitere Last des Haushalts sind.« Endlich war man (eine ½ Viertelstunde vor der Stadt) vor dem Spitale angekommen. »Sie gehen doch ein wenig mit herein?« Worauf ich ihm mit Lächeln bestens dankte. »Nun, sagte er, so wünsch ich nur daß es Ihnen in Mergenth. so wohl werden möge, wie uns pp. wir haben hier eine Reihe Familien gefunden, mit denen wir in der That pp.«

Der am 6. November 1844 in Mergentheim geschriebene, an den engen Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885) in Wermutshausen gerichtete Brief, beginnt mit einem ungewöhnlich umfangreichen Musterkärtchen, dessen zweiter Teil hier abgedruckt ist. Das anfangs verwendete Namenskürzel »Willm.« ist wohl eine Abkürzung für »Wilmsen«; diese scherzhafte Bezeichnung für »Wilhelm« ist in Briefen Mörikes wie auch Hartlaubs nachzuweisen. – Mörike traf den seit dem Frühjahr 1844 in Mergentheim praktizierenden Oberamtsarzt und Hofrat Friedrich Krauß (1803-1885) am 5. November auf einem Spaziergang, den er von seiner in unmittelbarer Nähe des Boxberger Tors gelegenen neuen Wohnung aus unternommen hatte. Krauß war verheiratet mit Therese geb. Schlier (1804-1856). Bei dem »Krankenhaus«, zu dessen Besuch Friedrich Krauß Mörike einlud, handelte es sich wahrscheinlich um das außerhalb der Stadt an der Straße nach Wachbach gelegene Armenhaus (Rochusstift), das 1674 neu erbaut worden war und in dem damals ansteckende Kranke und kranke Reisende behandelt wurden. An der Straße nach Wachbach lag auch – auf der Höhe der »Bronnen Gärten« – das »Brünnchen«, das Mörike erwähnt. – Mit der »WohlthätigkeitsAnstalt« ist das Karolinum gemeint, ein Krankenhaus für Invalide, Arme und Dienstboten, für das sich Friedrich Krauß sehr einsetzte. – Ottmar Schönhuth (1806-1864), ein ehemaliger Studienkollege Mörikes, amtierte seit 1842 als Pfarrer im nahen Wachbach. Ihm war Mörike schon während seiner Mergentheim Kur im Jahr 1837 wiederbegegnet. Aus dieser Zeit kannte er auch bereits Franz Jakob Höring (1802-1891), der Mörike damals ärztlich betreute. Höring praktizierte seit 1832 in Mergentheim und war als Oberamtschirurg und Geburtshelfer Friedrich Krauß unterstellt; er war unter anderem für die Betreuung der medizinischen Veröffentlichungen im Oberamt zuständig. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden auch in ländlichen Gebieten ärztliche Lesegesellschaften; in medizinischen Jahres- und Sitzungsberichten aus jener Zeit finden sich überall Nachrichten über Journalzirkel sowie Veröffentlichungen von Listen laufender Zeitschriften und neuen Leseordnungen. – Der Rittmeister a.D. Karl Siegfried Johann Freiherr von Schertel (1778-1848), der seit Beendigung seiner Militärlaufbahn in Mergentheim lebte, besaß südlich der Stadt an der Straße nach Wachbach einen Garten. –– Mit der damals gebräuchlichen Bezeichnung »Krabben« waren »nicht rassenreine« Pferde gemeint (hergeleitet vom schwedischen »Krabba« als verächtlicher Ausdruck für ein kleines Pferd).

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 181-182.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Oktober 2018

MUSTERKÄRTCHEN
[...]

Ich hatte eines Tages nach dem Essen Lust, das kleine Zimmer im Schloß, wo die beim Brand verunglückten Uhren, die früher auf den Pürkelhofer Äckern gefundenen GeschützKugeln u. anderes schweres Gerümpelwerk aufgehäuft liegt. Clara faßte die Eine kleinere Uhr ins Aug, ließ ihre Absicht darauf merken und so nahm man sie mit auf mein Zimmer. Es fand sich daß sie nicht im Feuer selbst gewesen war, sie hatte immer in der Brantweinbrennerei gehangen um mittelst ihrer hellen Glocke (einem sogenannten Wecker) dem Brenner Nachts zu läuten. Es ist ein schönes ganz messingnes Werk, wohl über hundert Jahre alt, ächt englische Arbeit, auf dem metallnen Zifferblatt steht Sam. Steevens; London; die alterthümlich schnörkelhaften Verzierungen aussen durchaus Messing. Natürlich Alles schwarz von Schmutz, von stockendem Öl überzogen. Diese muß unser seyn! sagt ich nach der genauern Untersuchung; Louis lachte, holte das fürstl. GeräthsInventar herbei, ob sie nicht etwa dort aufgezeichnet sey, oder vielleicht unter den vom frühern Gutsbesitzer Hamminger der Herrschaft zum Kauf angebotenen, von ihr aber noch nicht entschieden angenommenen Geräthen stehe. Das leztere war der Fall u. zwar der Preis in der Liste mit 11 f. beigefügt. Und dennoch muß sie mit nach Mergentheim! sagt ich. In unserer großen Stube muß sie schlagen! sagte Clärchen. Louis glaubte selbst, Herr Hamminger, der ihm verbindlich sey, werde sie ihm auf sein Ersuchen entweder für ein kleines Geld oder geschenkt überlassen. Sogleich diktirte ich ein Briefchen an den genannten freundlichen Herrn u. wir erwarten jezt die Resolution.

Seit dem 6. September 1850 hielten sich Mörike mit seiner Schwester Klara (1816-1903) und zunächst auch mit Margarethe Speeth (später verheiratete Mörike; 1818-1903) im bei Regensburg gelegenen Pürkelgut auf. In dem 1844 vom fürstlichen Haus von Thurn und Taxis erworbenen Gut war Mörikes Bruder Ludwig (gen. Louis; 1811-1886) seit dem 1. Januar 1848 Ökonomieverwalter. Mörike und seine Schwester kehrten am 26. Dezember von dort zurück, Margarethe Speeth war bereits am 13. Oktober wieder nach Mergentheim gefahren. Der kurz nach dem 22. Oktober 1850 an sie geschriebene Brief enthält auch vorliegendes Musterkärtchen. Es berichtet von einer Begehung der Räume des südlich der (aus vier in einem geschlossenen Rechteck angeordneten, langgestreckten) Ökonomie- und Wohngebäuden stehenden, mit einem See umgebenen barocken Wasserschloß (erbaut 1728) des Pürkelguts. Dort hatte es im Frühjahr 1849 gebrannt. Die dabei offensichtlich nicht betroffene Branntweinbrennerei wurde damals wohl Anton Führbacher geleitet. – Die von Mörike erwähnte Uhr stammte aus der von Vater und Sohn Stevens zwischen 1680 und 1718 betriebenen Londoner Uhrenfabrik Stevens. – Den erhaltenen Inventarverzeichnissen des Pürkelguts aus den Jahren 1848 bis 1850 (Regensburg, Fürstlich Thurn und Taxissches Zentralarchiv, Rentamt St. Emmeram) liegt keine Verkaufsliste Georg Hammingers, der am 5. August 1838 das Pürkelgut gekauft hatte, mit einer entsprechenden Eintragung bei. Das Schreiben Mörikes an G. Hamminger mit der Bitte um Überlassung der Uhr ist, ebenso wie eine mögliche Antwort Hammingers, nicht nachweisbar (vgl. HKA, Bd 15, EB 104, S. 392). Ob Mörike die Uhr erhalten und mit nach Mergentheim genommen hat, ist nicht bekannt.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 15. Briefe 1846-1850. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 346.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


September 2018

Nachschrift von E. D. 19. SEPT.

Ich gehe mit der »Alten« täglich 2 Stunden den Weg an dem Brünnlein vorüber pp spazieren, wobei aber immer viel ausgeruht wird. Zuweilen findet man eine gefallene Birne im Weg die sie mit großer Lust verspeißt, manchmal auch nehm ich etwas Obst im Sacke mit u. lasse es auf ihren Anruf heimlich vom Wind über die Hecke werfen, worauf sie ihm dann in vollkommenem Glauben mit unzähligen Handgrüßen dankt. Gewöhnlich aber ist mein Vorrath klein und ich selbst bin großer Liebhaber. Neulich sahn wir so schöne schwarze Trauben über die Mauer hängen, bei jeder fragte sie: Zeiti? – Nein, noch nicht ganz. Aber bißle zeiti? – Noch wiedsauer. – Wem ghöt das Weinbäg? – Dem Kaufmann Sartorius. – Wo is er? – In der Stadt. – Und dä? – Dem Herr Kanzleirath Götz (willkührliche Namen). – Wo is er? – In der Stadt. – Alles in der Stadt? Und dä? – (Etwas unwillig:) Dem Metzger Pfuderer und jetzt ists gnug!! – Ich gab ihr alsdann eine schöne goldgelbe Birne, die ich unbemerkt vom Boden aufgerafft u. für mich bestimmt hatte und sezte sie (die Batte) auf einen Ruhplatz unter einen Baum neben den Stäffelchen des nächsten Weinbergs. Während ich mit Vergnügen zusehe, wie ihr der süße Saft am Mund rechts und links herabläuft, so daß sie nur zu schnaufen u. zu schlucken hat, kommt ein gemeiner Mann, Eigenthümer des Guts, grüßt u. betrachtet das Kind, welches in seinem blaugestreiften Sommerkleid, mit dem Strohhut und kleinen Rosen darauf auch wirklich zum Malen angenehm dasaß. »Will des Töchterle net vielleicht au a Träuble?« Er ging und schnitt gleich eins mit etwa 20 großen weißen Beeren. Die Birne wurde augenblickl. weggelegt, ich verspeißte den Rest, das sie doch nicht gern sah. Bald hatte sie reine Arbeit gemacht, warf den Kamm auf die Seite und sagte befriedigt: sehr duter Mann! – Schad daß ers nicht mehr hörte, es ging ihr vom Herzen.

Mörikes Schwester Klara (1816-1903) besuchte vom 12. August bis zum 21. September 1857 die damals in Wimsheim lebende Familie von Mörikes engstem Freund Wilhelm Hartlaub (1804-1885). Die vorliegende Nachschrift ist Teil eines Briefes, den Mörikes Frau Margarethe (1818-1903) am 19. und 20. September an ihre Schwägerin und die Wimsheimer Freunde richtete. In ihr erzählt Mörike von einem Spaziergang mit seiner älteren Tochter Franziska (gen. Fanny; 1855-1930), der unter anderem am »Brünnlein« vorbeiführte, auf halber Höhe hinter dem Stuttgarter Katharinen-Hospital gelegen (wohl identisch mit dem heutigen Koppental-Brunnen). Der dabei teilweise in schwäbischer Sprache geführte Dialog mit seiner Tochter lautet auf hochdeutsch: »Zeitig? [im Sinne von: reif] – Nein, noch nicht ganz. Aber bischen zeitig? – Noch sauer wie ein Weidenzweig. – Wem gehört der Weinberg? – Dem Kaufmann Sartorius. – Wo ist er? – In der Stadt. – Und dieser? – Dem Herr Kanzleirath Götz (willkührliche Namen). – Wo ist er? – In der Stadt. – Alles in der Stadt? Und dieser? – (Etwas unwillig:) Dem Metzger Pfuderer und jetzt ist es genug!!« (auch der von Mörike zuletzt benutzte Name wurde »willkührlich« gebildet). Die weiteren, in der Nachschrift folgenden mundartlichen Worte lauten auf hochdeutsch: »Will das Töchterlein nicht vielleicht auch einen Trauben?« und »sehr guter Mann!« – »Batte« ist der von Mörike seiner Tochter Franziska gegebene Rufname, den er im Mergentheimer Hausbuch (SNM 2571) wie folgt erklärt: »Battele (der selbstgemachte HausName Fannys) im Französischen: Schiffchen«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 28.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


August 2018

Musterkärtchen
von den letzten Tagen für meine liebe Gretilla
und mein Kleinselein

[...] d. 11/12. Nachts um halb 2 Uhr eine Fledermaus in Claras Schlafzimmer befreit. Abds. gegen 4 Uhr Spaziergang zu dreien in den Garten, wo Fanny die letzten Reine Clauden vom Baume herunterstupste. Um 5 Uhr treffen wir Clara Schmidt zu Haus; Pauline Gmelin zum Clavierunterricht; Fanny darf ein neues sehr schönes Stück von Diabelli anfangen. Nachher bleiben beide Fräulein zu einem Butterbrot u. Bier.

Vom 28. April 1864 bis zum 26. Januar 1870 wohnte Mörike mit seiner Frau Margarethe geb. Speeth (1818-1903; hier mit dem Kosenamen »Gretilla« erwähnt), seinen Töchtern Franziska (1855-1930; genannt »Fanny«) und Marie (1857-1876; hier als »Kleinselein«, dem schwäbischen Kosewort für »das kleinste Kind«, bezeichnet) sowie seiner Schwester Klara (1816-1903) in der Stuttgarter Kanzleistraße 8. Die Wohnung im dritten Stock des Hauses hatte vier Zimmer und Küche und war etwa 150 m2 groß. Am 14. August 1865, dem Datum des Briefes an Margarethe und Marie Mörike, aus dem hier zitiert wird, hielten sich Letztere bei Margarethe Mörikes einstiger Schulfreundin Marie Hibschenberger in Adelsheim auf (vom 26. Juli bis zum 22. August). Das vorliegende Musterkärtchen ist das siebte von neun Musterkärtchen, die zwischen dem 6. und dem 14. August entstanden sind und als Brief nach Adelsheim gingen. – Das »Schlafzimmer« von Mörikes Schwester Klara, das sie mit beiden Kindern teilte, befand sich hinter einer »Spanischen Wand« im sogenannten »Blauen Zimmer« (vgl. den von Mörike gezeichneten und beschrifteten Grundriß der Wohnung; Deutsches Literturarchiv Marbach). – Bereits am 1. Juni 1859 hatte Mörike den Garten am Kornberg erworben. Er blieb bis zum 5. Mai 1870 in seinem Besitz. – Klara Schmidt (1834-1885), eine Enkelin von Mörikes Onkel Christoph Friedrich Ludwig Neuffer wurde nach der Rückkehr aus dem Garten zusammen mit der Klavierlehrerin von Franziska Mörike, Pauline Gmelin (1828-1902), »zu Haus« - in der Kanzleistraße – angetroffen. Welches Stück des Komponisten und Musikverlegers Antonio Diabelli (1781-1858) Franziska Mörike einstudieren mußte, ist nicht bekannt.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 98.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juli 2018

Musterkärtlein für mein liebes Clärchen.

Aus einer alten gedruckten Denkschrift in Quart mit Umschlag von Silber-BlumenPapier [...] S. 25. Anrede des HE. RegierungsRath OberAmtmann Kerners u. SpecialsuperAttendenten M. Zillings AD SERENISSIMUM. (außerhalb dem Stuttgarter Thor wo eine donnerschlächtige Ehrenpforte errichtet war) Zilling sprach unter Anderem Folgendes: – – »Aber es ist nur das Äußerliche und Sichtbare. Die Fülle unseres Herzens und die Bereitschaft unseres Inwendigen können wir nicht schildern. Unsere Herzen sind viel erweiterter als die errichteten Ehrenbögen, dann sie stehen Eurer Durchl. unverdeckt und vollkommen offen. Unsere Herzen sind viel besser illuminirt als unsre Häuser leuchten werden, dann sie brennen ganz von DEVOTESTER Treue. Unsere Wünsche sind viel durchdringender als die Canonen, die wir eben da hören, dann sie dringen bis in den Himmel hinauf«. pp – –

Klara Mörike (1816-1903), an die vorliegendes, nach dem 2. Juli 1853 entstandenes Schreiben gerichtet war, hielt sich damals seit dem 18. Juni in Mergentheim bei Mörikes Schwiegermutter Josephine Speeth (1790-1860) auf. In dem Brief teilt Mörike ihr mehrere Musterkärtchen mit. Der vollständige Titel der bei »Christoph Friederich Cotta, Hof- und Canzley-Buchdrucker« in Ludwigsburg erschienenen »alten gedruckten Denkschrift«, aus der Mörike einige dieser Musterkärtchen zitiert, lautet: »Beschreibung des feyerlichen und gnädigsten Einzugs Seiner Herzoglichen Durchlaucht, des regierenden Herrn Herzog Carls zu Würtemberg und Töckh etc. nach Höchst Dero beglückten Zurückkunfft aus Italien in Dero Herzogl. Residenz und dritten Haupt-Stadt Ludwigsburg den 11ten Julii 1767. nebst denen auf solche höchsterfreuliche Begebenheit angestellten so wohl allgemeinenals besondern Ehren- und Freuden-Bezeugungen. Mit Herzoglich gnädigster Genehmigung«. Gemäß einer Aufzeichnung in seinem Kalender für 1854, GSA, verlieh Mörike das heute nicht mehr nachweisbare Exemplar dieser Schrift, das sich in seinem Besitz befand, in jenem Jahr an Justinus Kerner (1786-1862), den Sohn des Ludwigsburger Oberamtmanns und Regierungsrats Christoph Ludwig Kerner (1744-1799). Letzterer war im Jahre 1866 ins Amt gekommen. – Georg Sebastian Zilling (geb. 1725) war 1767 Dekan (auch »Spezialsuperintendant« genannt) und begrüßte Karl Eugen Herzog von Württemberg (1728-1793) bei der Ankunft in Ludwigsburg vor dem »Stuttgarter Tor«, eines der vier Haupttore an der Südseite der Stadt. – »Ad Serenissimum«: lat. für »an den Durchlauchtigsten«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1851-1856. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 152-153.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Juni 2018

Musterkärtchen.

MARIE: (mit Spielen an ihrem Tischchen beschäftigt hat nebenher von Krankheiten unter uns reden gehört u. fragt in einer Pause des Gesprächs): »Wenn man das Überg'wicht kriegt – sind das arge Schmerzen?« Ein andermal: »was ist Sehnsucht? – thut ei'm das arg weh?«

Der von Eduard und Margarethe Mörike (1818-1903) an Wilhelm Hartlaub (1804-1885) gerichtete Brief trägt das Datum des 2. Juni 1860. Ihre Tochter Marie (1857-1876), von der hier die Rede ist, war zwei Jahre jünger wie ihre Schwester Franziska (gen. Fanny; gest. 1930); als vorliegender Brief geschrieben wurde war sie also drei Jahre und vier Monate alt. Die Familie wohnte seit Anfang September 1859 in der Stuttgarter Miltärstraße 51; die Wohnung im zweiten Stock mit vier Zimmern und Küche war etwa 95 qm groß.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 17. Briefe 1857-1863. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 109.


Mai 2018

Am XXIX Mai. Musterkärtchen.

Morgens vor dem Frühstück sagt Ed. zu Fanny.
Heut ist des Herrn Dots Geburtstag.

F. Ja! – Wie alt ist jetzt der Herr Dot?
E. Fast so alt wie Dein Vater. Ich bin jetzt bald 48 Jahr.
F. Oh! (Staunen über die hohe Zahl.)

Im Brief an seinen Schul- und Studienfreund Wilhelm Hartlaub (1804-1885), im Jahr 1864 Pfarrer in Stöckenburg, berichtet Mörike gleich zu Beginn von einem Dialog mit seiner damals 9 Jahre alten Tochter Franziska (genannt Fanny; 1855-1930). Warum der damals 60jährige Mörike dabei sein Alter mit 48 angibt, ist nicht bekannt. –
»Dot« bzw. »Dote« waren im Süddeutschen die geläufigen Bezeichnungen für »Taufpate« bzw. »Taufpatin«. Neben dem »Herr Dot« Wilhelm Hartlaub waren Josephine Speeth, Klara Mörike, Friedrich (genannt Fritz) Mörike, Emilie Buttersack und Luise Breitschwert die Paten bzw. Patinnen von Mörikes ältester Tochter, die am 7. Mai 1855 in der Stuttgarter Spitalkirche getauft worden war.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 34.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


April 2018

Musterkärtchen
für die lieben Wimsheimer Freunde

[...] Im Heimweg durch die sonnige Hospitalstraße sagte WOLFF, während die Frauen einige Schritte vor uns hergingen: »Weißt Du auch, wie der Erz-Schelm, der Heigelin Deine Frauenzimmer heißt? Er wunderte sich neulich daß man Dich gar nirgends mehr sehe u. ich erklärte es ihm, da sagte er: So! i hab glaubt, seine zwei sanfte Drachen lassen ihn net fort – Ist das nicht herzig?!«

Im vorliegenden, zwischen dem 10. und dem 26. März 1865 geschriebenen Brief teilt Mörike der Familie Hartlaub ausschließlich Musterkärtchen mit; sie berichten von Ereignissen, die sich zwischen Dezember 1864 und dem 26. März 1865 zugetragen haben müssen. Die eng befreundete Familie lebte damals allerdings schon nicht mehr in Wimsheim: die Hartlaubs verzogen bereits am 10. November 1863 nach Stöckenburg bei Schwäbisch Hall (die Pfarrei Stöckenburg gehörte damals zu Vellberg); Wilhelm Hartlaub vermerkte dies unter Mörikes Anrede »Wimsheimer« mit dem Wort »Stöckenb.«. – Das hier wiedergegebene dritte der zahlreichen Musterkärtchen berichtet über ein Gespräch, das Mörike mit dem befreundeten Karl Wolff (1803-1869) am 4. Dezember 1864 auf dem Heimweg von einer Matinee Pauline Gmelins (1851-1882) führte. Bei ihr hatte Mörikes Tochter Fanny seit Ende 1864 Klavierunterricht. Pauline Gmelin wohnte damals in der Gartenstraße 25. Von dort gelangte man über die Hospitalstraße in die Kanzleistraße, in der Mörike und Wolff mit ihren Familien wohnten (Mörike hatte seit dem 28. April 1864 in der Kanzleistraße 8 im 3. Stock eine ca 150 m2 großen Wohnung mit vier Zimmern und einer Küche gemietet; Wolff wohnte in der Kanzleistraße 31). Auf dem Weg nach Hause wurden sie begleitet von ihren »Frauen« Margarethe (1818-1903) und Marie (1810-1873). – Die Äußerung über »Deine Frauenzimmer«, Mörikes Frau Margarethe und seine Schwester Klara (1816-1903), stammt von dem als »Erz-Schelm« bezeichneten Marcell Wilhelm Heigelin (1805-1874), der seit 1862 Schulrat in Stuttgart und in dieser Funktion auch Bezirksaufseher über die Volksschulen war.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 18. Briefe 1864-1867. Hrsg. v. Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 71.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


März 2018

Sie [Agnes Hartlaub] pflegt uns öfters vorzulesen, besonders mir bei meinen Stuben-MOTIONEN. Sie hat einen natürlich-lebhaften, wahrhaft dramatischen Ausdruck, wie ich bei keinem Kind von diesem Alter fand. Zuweilen kommen lustige Lesfehler vor: z. B. einen großmüthigen Wetterstreit statt Wettstreit. - »An Schwere 15 Ctr.« las sie (jedoch mit einem zweifelhaften Blick auf mich): 15 Creaturen.

Mörike teilt in einem Brief vom 21. März 1842 an Wilhelm Hartlaub mehrere Musterkärtchen mit. Sie beschreiben Begebenheiten mit Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878), die vom 21. Februar bis zum 8. Mai 1842 zu Besuch im Cleversulzbacher Pfarrhaus war. Der Begriff »Stuben-MOTIONEN« in dem hier gedruckten Kärtchen bezeichnet vermutlich die Bewegung (»Motion« war dafür damals ein gebräuchliches Fremdwort), die der Neuenstädter Arzt Karl Ludwig Elsäßer (1808-1874) Mörike wegen dessen körperlicher Beschwerden verordnet hatte. - »Ctr.« war die in jenen Tagen häufig benutzte Abkürzung für »Centner«.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 14. Briefe 1842-1845. Hrsg. v. Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 30.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Februar 2018

Ich zeigte ihr [Antonie Schwerzenbach] hierauf in Wolffens Buch in den Anfangsgründen der Baukunst den

»3. Lehrsatz

Ein Fenster muß so breit seyn, daß zwey Personen gemächlich NEBEN EINANDER IN DEMSELBIGEN LIEGEN KÖNNEN.

BEWEISS.

DENN MAN PFLEGET SICH ÖFTERS MIT EINER ANDEREN PERSON AN DAS FENSTER ZU LEGEN UND SICH UM ZU SEHEN.«

worüber wir uns lustig machten.
E Wirst Du Dich auch einmal mit einer anderen Person so in das Fenster legen?
A (lächelnd) Ich weiß nicht. (Sogleich einlenkend, weil ihre Antwort ein zu schnelles Verständniß der Frage verrieth) Mit meiner Schwester Elis' hab ichs schon manchmal gethan.
E. Nun, wenn Du früher oder später mit einer anderen Person einmal so gemächlich in dem Fenster liegst, erinnere Dich doch dankbar desw guten Mannes, der diesen angenehmen Lehrsatz aufgestellt hat.
Ant: Ja, das will ich. –

Die Schweizerin Antonie Schwerzenbach (1838-1877), in deren Züricher Elternhaus auch Friedrich Theodor Vischer verkehrte, kam Ende Mai 1854 nach Stuttgart. Sie wohnte bis Ende 1855 als Pensionsgast bei Mörikes in der Alleenstraße 9. Die Wohnung im dritten Stock mit fünf Zimmern und einer Küche war etwa 135 m2 groß und kostete mit 250 fl eine für die Familie relativ hohe Miete. Deswegen vermietete man an ein bis zwei Kostgänger weiter. Antonie Schwerzenbach besuchte während ihres Aufenthalts in Stuttgart das Katharinenstift.
Die hier geschilderte Szene berichtet Mörike in einem Brief, den er nach dem 25. Februar 1855 an Familie Hartlaub richtete. Er zitiert dabei aus der Publikation »Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften« (Bd. 5, Kurtzer Unterricht von den vornehmsten mathematischen Schriften, 7. Aufl., Frankfurt/M. u. Leipzig 1750) von Christian Freiherr von Wolff (1679-1754), einem führenden Philosoph der deutschen Aufklärung. – Mit »Elis'« ist Antonie Schwerzenbachs Schwester Elise (1842-1925), später verheiratete Hirzel, gemeint.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 16. Briefe 1851-1856. Hrsg. v. Bernhard Thurn. Stuttgart: Klett-Cotta 2000 , S. 203-204.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold


Januar 2018

mir ... Musterkärtchen diktiren

Agnes hörte den Namen Ambrosia nennen, und mann mußte ihr das Wort erklären. worauf sie es mehrmals mit offenbarem wohlgefallen über den schönen Klang wiederholte. Einige Stunden später da sie dieß gleichfalls that sagte sie: das ist das schönste Wort, mein Leibwort. –

Das hier zitierte Musterkärtchen hat Mörike, der wegen einer Erkältung nicht selbst schreiben konnte, seiner Schwester Klara (1816-1903) diktiert. Es ist Teil eines Schreibens, das Klara Mörike nach dem 21. Januar und vor dem 8. Februar 1840 an Konstanze Hartlaub (geb. Kretschmer; 1811-1888), der Frau seines engsten Freundes Wilhelm Hartlaub, gesandt hat. Der Text Mörikes wird von seiner Schwester eingeleitet mit den Worten: »Nun will er daß doch auch etwas von ihm zu Euch gelange«.
Mörike, seit 1834 Pfarrer in dem bei Neuenstadt am Kocher gelegenen Dorf Cleversulzbach, lebte im dortigen Pfarrhaus mit seiner Schwester Klara und seiner Mutter Charlotte (geb. Beyer; 1771-1841). Zur Entstehungszeit des vorliegenden Schreibens war Wilhelm Hartlaubs Tochter Agnes (1834-1878) bei Mörikes zu Besuch. Sie hielt sich dort bereits seit Ende August 1839 auf und kehrte erst im Februar 1840 zu ihrer Familie nach Wermutshausen zurück.
Mit dem griechischen Wort »Ambrosia« wird in den Homerischen Gedichten gewöhnlich die »Götterspeise« bezeichnet. Es wird von Homer aber auch in der Bedeutung von »Salbe« und »Seife« (als Heilmittel bei Verwundungen und als Antiseptikum bei Einbalsamierungen) verwendet. Allerdings gibt es schon zu Mörikes Zeiten auch die Auffassung, daß mit »Ambrosia« der berauschende Göttertrank, also der »Nektar«, bezeichnet wird. Wie umfassend Mörike der damals sechsjährigen Agnes Hartlaub das Wort erklärte, ist nicht überliefert.

Textgrundlage: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Bd. 13. Briefe 1839-1841. Hrsg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 84.

Auswahl und Kommentar: Albrecht Bergold